Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
auch – ein Geschenk von Monsieur Charvet –, einen Tarbusch aus demselben roten Material. Er nimmt seine Perücke ab, setzt die Mütze auf. Im Spiegel, im Kerzendunkel, sieht er aus wie ein venezianischer Senator. Irgendwie auch wie ein Kind, das sich ins Zimmer seiner Eltern geschlichen und die Kleider seines Vaters angezogen hat. Nicht, dass sein Vater je ein solches Kleidungsstück besessen hätte. Er hätte es nicht gebilligt, wäre nicht im mindesten erfreut darüber gewesen, seinen ältesten Sohn so etwas tragen zu sehen, wäre vielleicht sogar zum Spott, zum Zorn gereizt worden.
Vom Bild seines Gesichts wendet er sich dem Druck der Rialtobrücke an dem Nagel über dem Kaminsims zu. Wenn er dieses Ding tragen soll, dann muss er es mit hohen Gedanken ausfüllen. Einfach nur den Philosophen zu spielen wird nicht gehen. Er muss lesen, arbeiten, denken. Er rafft die Säume des Hausrocks, ganz ähnlich wie er es Frauen auf einer verschmutzten Straße hat tun sehen, setzt sich an seinen Tisch, zieht die Kerze näher heran und schlägt seine Ausgabe des zweiten Bandes von Buffons Histoire Naturelle auf. Ein Stück blasses Stroh ist sein Lesebändchen. Er runzelt die Stirn über der Seite. Die Taxonomie der Fische. Gut. Ausgezeichnet. Er schafft einen ganzen Absatz, ehe die Worte in schwarzen, flimmernden Schwärmen von ihm wegschwimmen und nackte Bilder des Tages zurückbleiben, den er gerade verbracht hat, jener schändlichen, unverzeihlichen Verschwendung von Zeit und Geld. Er sieht das Innere der Kirche vor sich, sieht Armand als großen, auf der Orgelbank hockenden Kobold, sieht sie beide, wie sie sich vor dem Priester verstecken, sieht die Frau, die Österreicherin, wie sie ihr kleines Stück Käse kauft und sie beide ansieht, ihn einen Moment lang direkt ansieht , diese Frau, die hier fehl am Platze ist, nicht hierhergehört. Dann das Palais, die Marionetten, die ihre Holzhüften gegeneinanderstoßen, die Wachsprinzessin. Und Charvet mit seinem von Stecknadeln glitzernden Lächeln …
Er legt das Stück Stroh zurück, klappt das Buch zu, dreht das Messinglineal in den Händen. Der Himmel weiß, wo Marie steckt. Er wird morgen früh mit ihr reden. Er kann nicht mehr warten.
Er zieht die Schuhe und seine pistazienfarbenen Hosen aus. Mit Interesse und leichtem Befremden stellt er fest, dass er eine Erektion hat. Irgendeine seltsame Nachwirkung des Trinkens, des lüstern machenden Weins. Durch den Hemdstoff hindurch packt er seinen Schwanz. Ist das Leben des Körpers das wahre Leben? Der Verstand nichts als ein Irrlicht wie das Elmsfeuer, das Seeleute mitten im Atlantik um ihre Mastspitzen kreisen sehen? Während er diese kleine pensée (von der er kein bisschen überzeugt ist) auskostet und dabei seinen Schwanz wie eine Feder hält, mit der er sie niederschreiben könnte, lässt ihn ein Geräusch vom Flur zusammenzucken, das langsame Kratzen von Krallen auf Holz, ein Geräusch, mit dem er allmählich vertraut wird. Er wartet. Es kommt wieder. Er geht zur Tür. Als er sie aufmacht, blickt Ragoût mit gelben, nicht zu deutenden Augen zu ihm auf, Augen, die ihre eigene Leuchtkraft zu besitzen scheinen, wie manche Blumen in der Abenddämmerung. Er geht in die Hocke, streichelt dem Tier den Kopf, das verstümmelte Ohr. »Na schön, mein Lieber. Aber achte darauf, dass du mir nicht mitten in der Nacht die Krallen in den Hals schlägst.«
Eine Bewegung von der anderen Seite des unbeleuchteten Flurs bringt ihn zum Schweigen. Er schaut genauer hin. Es ist Ziguette Monnard. Sie trägt ihr Nachtgewand. Ihr Haar ist nicht festgesteckt, ausgebürstet.
»Der Kater«, sagt er.
»Ragoût«, sagt sie.
»Ja.« Er kann nicht aufstehen; sein Schwanz ist immer noch steif. Auch bei diesem Licht wäre es unmöglich, diesen Umstand zu kaschieren. »Es ist bestimmt schon spät«, sagt er.
»Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen«, sagt sie.
»Das wird es bestimmt.«
»Haben Sie schon mit Ihrer Arbeit begonnen?«
»Mit einigen … Vorarbeiten.«
Sie nickt. »Dann gute Nacht, Monsieur.«
»Gute Nacht, Mademoiselle.«
Sie wendet sich ab, schlüpft in ihr Zimmer. Jean-Baptiste steht auf, reibt sich den Rücken, schaut hinunter auf die alberne Marionette zwischen seinen Schenkeln, die nun endlich ihren langsamen Diener macht. Auf dem Fußende des Betts leckt sich Ragoût die Pfoten. Jean-Baptiste streift den Hausrock ab, legt ihn über die Stuhllehne, bläst die Kerze aus, tastet sich zwischen die leicht klammen Laken. Dann
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