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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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einen der Träger, so wie er gebaut war – und ein Mädchen beobachtet, das so hübsch war wie eine Elfenkönigin und nicht älter als sie selbst. Als er es mit ihr machte, miaute sie wie eine Katze. Und sie machten es nicht nur einmal, sondern drei- oder viermal und hielten nur inne, um ein wenig den Mond zu betrachten und aus der mitgebrachten Flasche zu trinken, die sie am nächsten Tag ans Grab der Peyrons gelehnt fand, das sie als Bett benutzt hatten. Es war noch ein Rest Wein darin, und sie kostete ihn, spürte, wie er ihr die Kehle hinunterrann, und versteckte die Flasche dann in einem Loch unter dem Grab.
    Manchmal – selten – sieht sie den alten Priester mit seiner Brille, eine große, flügellose Fledermaus in der Abenddämmerung. Und manchmal den rothaarigen Musiker, der herauskommt, um seine Notdurft zu verrichten, und jedesmal winkt, wenn er sie sieht. Sie würde gern seine Hände betrachten. Seine Hände müssen etwas Besonderes sein, denn nur besondere Hände können die Töne hervorbringen, die er hervorbringt, jene Musik, die ein-, zweimal im Monat durch die schwarzen Mauern der Kirche dringt und ihr Herz rasen lässt.
    Vor dem Haus blickt sie auf, damit die Herbstsonne ihr Gesicht wärmt, dann, von der Berührung belebt und getröstet, geht sie hinein. Großvater ist in der Küche. Sie bringt ihm den Vogel, hält ihn hoch, damit er die Finger ins Gefieder stecken kann. Er gibt einen kleinen, zustimmenden Laut von sich, dann deutet er mit dem Kinn in Richtung des von der Küche abgehenden Zimmers: das Büro des Küsters, ein gekalkter Raum mit einem schmalen Bogenfenster, wo auf durchhängenden Regalbrettern wer weiß wie viele Bände Kirchenbücher mit ihrem Staub, ihren Mäusekötteln, ihren von der Feuchtigkeit hervorgerufenen verrückten Marmorierungen aufgereiht sind. Am Pult steht ein Mann, einen der Bände aufgeschlagen vor sich. Er starrt darauf, blättert um, drückt sich ein Tuch vor das Gesicht, schließt die Augen, atmet tief ein, steckt das Tuch dann in die Rocktasche zurück. Der Rock ist aufgeknöpft, darunter kann sie ein Stück von seinem Anzug sehen, der grün ist wie ein Salatherz.
    Das Huhn gluckt; der Mann wendet sich in Richtung Küche. Er nickt ihr zu, und als sie stumm bleibt, nennt er ihr seinen Namen. »Ich schaue mir die Kirchenbücher an«, sagt er.
    »Das sehe ich«, sagt sie.
    Er nickt erneut, wendet sich wieder dem Buch zu.
    »Wir können Ihnen Wein anbieten, Monsieur«, sagt sie. »Und ein bisschen Kaffee haben wir auch.«
    Er hat sich erneut das Tuch vors Gesicht gedrückt und schüttelt den Kopf. Das Tuch ist mit einem Parfüm getränkt, das sie fast aufdringlich stark findet. Großvater geht mit dem Huhn nach draußen.
    »Sind Sie Ausländer?« fragt sie.
    »Ich komme aus der Normandie«, sagt er. Er fährt mit dem Finger eine säuberlich geschriebene Spalte hinunter. Im Herbst 1610 sind sieben Flaselles verstorben, einer nach dem anderen. Sieben in nicht ganz einem Monat.
    »Das dachte ich mir schon«, sagt sie.
    »Wieso?«
    »Ich habe Sie vorher noch nie gesehen.«
    »Kennst du in Paris jeden?«
    »Nein, aber im Viertel«, sagt sie.
    »Kennst du eine Familie namens Flaselle?«
    »Nein«, sagt sie. »Hier gibt es keine Flaselles.«
    »Es hat aber mal welche gegeben«, sagt er. Er schließt den Band und kommt auf sie zu. Von draußen ist hektisches Glucken zu hören, dann abrupte Stille.
    »Du bist Jeanne?« fragt er.
    »Ja«, sagt sie mit leichtem Grinsen ob seines singenden Tonfalls.
    »Dein Großvater hat gesagt, du würdest mir den Friedhof zeigen. Du wüsstest, wo die Gruben sind.«
    »Die Gruben?«
    »Die Armengräber.«
    »Sie sind überall«, sagt sie.
    »Aber du kannst sie mir zeigen?«
    Sie zuckt die Achseln. »Wenn Sie wünschen.«
    Der alte Mann kommt herein, in der einen Hand den Kopf des Vogels, in der anderen den noch leicht zuckenden Körper. Wie Samenkörner fallen Blutstropfen auf den Stein des Küchenbodens.
     
    Sie beginnen beim südlichen Beinhaus, einer Galerie aus geschwärztem Stein, die an die Rue de la Ferronnerie angrenzt. Von den Bögen, die in die Galerie führen, sind manche mit mannshohen Gattern aus rostigem Eisen versperrt, andere sind offen. Über den Bögen – und für jeden Friedhofsbesucher sofort sichtbar – befinden sich Dachkammern, vollgestopft mit Gebeinen, einige so schwarz wie die Steine, hinter Eisengittern.
    Nach kurzem Zögern tritt Jean-Baptiste durch einen der Bögen. Auf dem Stein unter seinem Fuß ist eine

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