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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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    »Wer bist du? Ich bin Jean-Baptiste Baratte. Woher kommst du? Aus Bellême in der Normandie. Was bist du? Ein Ingenieur, ausgebildet an der Ecole des Ponts …«
    In manchen Nächten steht mehr Überzeugung dahinter als in anderen.

7
     
    EIN MÄDCHEN ÜBERQUERT den Friedhof der Unschuldigen. Mit einer Hand trägt sie ein Huhn, das sie an einer um die Beine des Tiers geknoteten Schnur festhält; mit der anderen einen Weidenkorb mit Gemüse, etwas Obst, einem dunklen Laib. Wie üblich war sie eine der ersten auf dem Markt, ihre schmächtige Gestalt und das dichte, rötlichbraune Haar ein vertrauter Anblick unter den Dienstboten, die den größeren Teil der frühen Kundschaft ausmachen. Wo sie stehenbleibt, versucht der Standinhaber niemals, sie zu betrügen. Auch braucht sie die Ware nicht zu drücken und zu schütteln, sie zu beschnuppern oder zu feilschen wie eine der Hilfsköchinnen mit ihren rissigen Fingern oder jene knochigen Matriarchinnen dürftiger Haushalte, die nur knapp oberhalb der Armut leben. Sie wird rasch und respektvoll bedient. Vielleicht erkundigt man sich nach der Gesundheit ihres Großvaters, nach der zunehmenden Steifheit in seinen Gliedern, aber niemand wird sie lange aufhalten. Es liegt nicht daran, dass man sie nicht mag. Was gibt es an Jeanne nicht zu mögen? Aber sie kommt von der anderen Seite der Friedhofsmauer, einem Ort, an den die Leute in diesem letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts lieber nicht erinnert werden möchten. Sie ist liebenswert, hübsch, wohlerzogen. Sie ist außerdem die kleine Todesbotin mit dem rötlichbraunen Haar.
    Der Morgen ist kalt und wunderschön hell. Ihr Schatten und der des Huhns gleiten über das steife Gras, während sie dem Pfad – einem von nichts anderem als ihren Füßen markierten Pfad – von der Pforte auf die Rue aux Fers zum Haus des Küsters an der Ecke der Kirche folgt. Stellenweise ist der Boden, über den sie geht, uneben, und das Gras liegt in flachen Mulden, wo ein Grab eingesackt ist. Ein achtloser Besucher, einer, der sich nicht auskennt, könnte in eines davon einsinken, bis zur Hüfte oder zu den Schultern einsinken, sogar gänzlich darin verschwinden. Nicht aber Jeanne.
    Sie bleibt bei dem Predigerkreuz stehen, jenem Pfeiler aus Stein und Eisen, wo dereinst wohl Männer mit wilden Blicken lehnten, um der Menge einen Sermon zu halten. Am Fuße seiner Stufen steht ein Büschel Silberblatt, die Samenkapseln glänzen im Sonnenlicht hell wie Geldstücke. Sie bückt sich, um ein paar zu pflücken, die trockenen Stengel abzuknicken, und legt sie in ihren Korb. Auf dem Friedhof wächst nicht mehr viel. Die Erde ist erschöpft von ihrer Arbeit, dabei hat ihr Großvater, Küster seit fünfzig Jahren, ihr erzählt, dass der Friedhof, als er seinen Dienst antrat, im Frühjahr einer ländlichen Wiese glich, dass zu Zeiten seines Vorgängers der Priester und die Anwohner ihre Tiere darauf grasen ließen und dort Heu gemacht wurde.
    Sie hebt das Huhn auf. Abermals kopfunter hängend, verfällt es sofort wieder in seine Benommenheit. Sie nimmt einen Weg, der sie genau außerhalb des tiefen Schattens der Kirche entlangführt. Sie trödelt, lauscht auf die Stadt jenseits der Mauern, auf Paris, das seinen Morgengeschäften nachgeht, hört die Gänse in ihren Pferchen auf dem Markt, die Krabbenverkäuferin, die ihre Waren anpreist, das Geschrei der Säuglinge im Haus der Amme in der Rue de la Ferronnerie …
    In ihrer Kindheit – sie war neun, als die letzte Beisetzung stattfand – machte der Friedhof seine eigenen Geräusche. Das Tapp-tapp des Maurers, der Rhythmus eines Spatens, das Läuten der Glocke. Inzwischen – denn wieviel Lärm können ein junges Mädchen und ein alter Mann schon machen? – ist es hier still, sofern der Frieden nicht von irgendeinem Besucher gestört wird, der Sorte, die nachts uneingeladen über die Mauer klettert. Im Winter vor zwei Jahren wurde in der Ecke an der Rue de la Lingerie ein Duell ausgetragen. Vom Haus aus konnten sie und ihr Großvater es ganz deutlich hören, das kurze Aufeinanderschlagen von Waffen, den Ruf, der es beendete. Großvater wartete, bis es vollends Tag war, ehe er hinausging. Alles, was sie zurückgelassen hatten, war niedergetrampeltes Gras und ein von einem Hemd abgerissenes Stück Stoff, blutig.
    Und dann sind da noch die Liebespaare: Es gibt wenig, was sie in dieser Hinsicht nicht schon gesehen hätte. Erst im August, unter einem diesigen gelben Mond, hat sie einen Jungen –

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