Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
einer Art exquisitem Äffchen, das, wie sich herausstellt, Charvet der Schneider ist.
Die Werkstatt, wenn man derartigen Räumlichkeiten überhaupt einen so bescheidenen Namen geben kann, ist mit zierlichen Möbeln und Ölgemälden ausgestattet und nicht im entferntesten vergleichbar mit dem streng riechenden Atelier, in dem Jean-Baptistes Vater seine Handschuhe genäht hat. Abgesehen von dem Tisch am Fenster, wo zwei junge Männer verträumt Bahnen von irgendeinem Stoff abschneiden, der wie Quellwasser glitzert und sich kräuselt, deutet hier überhaupt nichts auf Arbeit hin.
Charvet vergeudet keine Zeit. Ein paar Worte von Armand, ein Schulterzucken von Jean-Baptiste, mehr braucht er nicht, um anzufangen. Er umkreist den Ingenieur, berührt, zupft, tritt zurück, um die Länge eines Beins, die leichte Rundung der Schultern, die schlanke Taille besser abschätzen zu können. Es ist nicht unangenehm, im Zentrum derart intensiver, professioneller Inaugenscheinnahme zu stehen. Jean-Baptiste bemerkt es nicht einmal, als Armand sich davonmacht. Der ganze Tag hat von Anfang an eine ganz eigene, seltsame Triebkraft entwickelt. Er kommt längst nicht mehr dagegen an. Er wird später darüber nachdenken.
»Ich glaube, Monsieur«, sagt Charvet, »ich glaube, wir werden etwas sehr Interessantes aus Ihnen machen können. Sie haben, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, die für die neuen Moden notwendige Figur. Sie sind keiner dieser korpulenten Herren, die ich eher verkleiden als bekleiden muss. Sie, Monsieur, können wir bekleiden. Ja. Etwas, was mit den natürlichen Körperbewegungen fließt. Etwas, was ein wenig informeller ist, aber auf seine Weise natürlich vollkommen korrekt … Wir müssen eine Geschichte erzählen, Monsieur. Wir müssen sie klar und schön erzählen. Ich werde Sie nicht für 1785, sondern für 1795 bekleiden. Cédric! Bring dem Herrn ein Glas Lafitte. Bring die Flasche. Und wenn Sie mir nun bitte die Ehre erweisen wollen, mir zu folgen, Monsieur …«
Zwei Stunden später betrachtet Jean-Baptiste sich – jemanden – in einem großen, blankpolierten ovalen Spiegel. Er trägt einen Anzug aus pistazienfarbener Seide mit einem Seidenfutter aus grünen und safrangelben Streifen. Die auf Oberschenkelhöhe endende Weste ist ebenfalls pistazienfarben, mit einer bescheidenen Goldfadenstickerei. Die Aufschläge am Rock sind klein, der Kragen ist hoch. Die Krawatte – ebenfalls safrangelb – ist fast so breit wie die von Armand. Lange Zeit haben Charvet und Cédric Nadeln zwischen den Lippen hervorgezogen, haben geschnitten und genäht und ihn mit jener Ungezwungenheit behandelt, die ihrem Gewerbe oder dem von Leibdienern, Chirurgen und Scharfrichtern vorbehalten ist. Sie sind fast fertig. Sie treten zurück, achten darauf, sich aus dem Bereich des Spiegels zu entfernen. Sie betrachten ihn, wie er sich selbst betrachtet. Es ist, wie Jean-Baptiste sehr wohl weiß, viel zu spät, um den Anzug zurückzuweisen oder auch nur zu kritisieren. Das hieße, nicht nur Charvet, sondern die Zukunft schlechthin zu denunzieren. Unmöglich! Er wird den Anzug nehmen, und er wird bezahlen, was immer Charvet verlangt. Wie sich herausstellt, ist das viel. Er errötet. Einen solchen Betrag hat er nicht bei sich. Der Schneider spreizt die Hände. Aber natürlich, natürlich. Morgen ist früh genug. Aber da wäre noch etwas anderes. Ob der junge Herr vielleicht ein Freigeist sei? Aha! Er habe sich schon so etwas gedacht, aber man wolle ja nicht impertinent erscheinen.
Er schwebt zum schimmernden Walnussholz des Sekretärs, entnimmt einer der Schubladen ein kleines, gerahmtes Bild und bringt es Jean-Baptiste. »Voltaire«, sagt er und lächelt das Bild an, als würde er, wenn er allein ist, liebevolle Worte an es richten. »Sehen Sie, was er trägt? Das Gewand? Man nennt das einen Hausrock. Freigeister kommen praktisch nicht ohne ihn aus. Ich habe einen in rotem Damast hier. Den meisten meiner Kunden würde ich nichts davon sagen; man würde es nicht verstehen. Aber in Ihrem Fall …«
»Ja«, sagt Jean-Baptiste.
»Ja?«
»Ich nehme ihn.«
»Und, Monsieur, Sie müssen Ihre eigenen Haare tragen. In fünf Jahren wird die Perücke vollkommen passé sein. Bis dahin habe ich eine ausgezeichnete Perücke mit Haarbeutel, komplett aus Menschenhaar und wochenweise zu mieten …«
»Die auch«, sagt Jean-Baptiste.
»Und überlassen Sie mir Ihren alten Anzug als Anzahlung, Monsieur? Ich habe noch ein kleineres Geschäft in der Rue
Weitere Kostenlose Bücher