Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Inschrift. Er geht in die Hocke, berührt die Buchstaben mit der Fingerspitze. Henri Soundso, dahingerafft, desgleichen sein Sohn, geliebter Irgendwas, Ehefrau von, geboren in, fromm, vergänglich, gnädig, das Fleisch, Ewigkeit, 14 soundso.
Er steht auf und geht ein kleines Stück die Galerie entlang. Der Lichteinfall ist sonderbar, manches ist deutlich, anderes überhaupt nicht zu erkennen. Er sieht das Filigranmuster von steinernen Blumen, sieht eine Frau aus Stein, die sich einen Schleier aus Stein vors Gesicht hält. Eine schmale Treppe, die vermutlich zu den Dachkammern hinaufführt. Sein Schuh tritt gegen ein Stück Mauerwerk, und dem Geräusch folgt unmittelbar das plötzliche Gewusel von Lebewesen, unsichtbar, doch nah. Er dreht sich um, eilt zurück ins Freie.
Er hat ein Notizbuch und eine Rolle Leinenband bei sich. Wenn er Maß nimmt, bittet er Jeanne, ein Ende des Bandes zu halten; dann schreibt und zeichnet er mit Hilfe einer Stahlfeder und eines tragbaren Tintenfasses in das Notizbuch. Er hat viele Fragen. Sie beantwortet sie alle, und er kritzelt ihre Antworten auf das Papier. Manchmal schließt er die Augen und zückt das Tuch. Er fragt, ob sie lesen kann.
»Ein bisschen«, sagt sie und zeigt auf die Inschrift auf einem Stein. » ›Hic Jacet‹ «,sagt sie. »Und da, ›Hic Requiescit‹ .Und da, ›Hic est Sepultura‹ .«
Er nickt, lächelt beinahe.
Sie sagt: » Sie können lesen.«
»Ich bin ja auch Ingenieur«, sagt er. »Weißt du, was das ist?«
»So etwas wie ein Priester?«
»Wir bauen Dinge. Konstruktionen.«
»Zum Beispiel eine Mauer?«
»Zum Beispiel eine Brücke.«
Er fragt sie nach der Lage des jüngsten Armengrabs. Sie führt ihn hin. Er blickt nach unten, blickt sich um. Ihm fällt nichts auf, wodurch es sich von dem Flecken daneben unterscheiden würde.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und es ist vor fünf Jahren geschlossen und versiegelt worden?«
»Ja.«
»Du warst damals noch ein Kind.«
»Ja.«
»Aber du erinnerst dich noch?«
»Ja.«
Sie gehen weiter. (Er muss in Bewegung bleiben.) Grube nach Grube.
»Und das hier? Ist das älter als das letzte?«
»Ja.«
»Und das hier?«
»Noch älter.«
Er zeichnet eine Karte. Das Mädchen sieht zu, wie er eine Linie durch eine leichte Veränderung des Anstellwinkels der Feder dicker oder dünner machen kann. Und die Formen und die kleinen Wörter. Es hat etwas Schönes.
»Was ist das?« fragt sie und zeigt auf einen von mehreren Kringeln, den sie ihn hat machen sehen, eine Form wie ein halber Totenschädel.
»Ein Fragezeichen«, sagt er. »Für Fälle, in denen eine gewisse Unsicherheit besteht.«
Sie macht ein langes Gesicht. »Sie glauben mir also nicht«, sagt sie.
Er glaube ihr durchaus, sagt er, aber was im Boden liege, sei verborgen. Was verborgen sei, könne man nicht genau wissen.
»Sie vielleicht nicht«, sagt sie. Es klingt nicht frech. Er scheint einen Augenblick lang darüber nachzudenken, dann klappt er das Buch zu, verschließt das Tintenfass, wischt die Feder ab.
»Für heute sind wir fertig«, sagt er. Während sie zum Haus des Küsters zurückgehen, fragt er: »Würdest du nicht gern von hier weggehen? Woanders leben?«
»Ich kenne nichts anderes«, sagt sie. »Und wer würde sich dann um sie kümmern?«
»Um wen?«
Ihre Handbewegung schließt den Boden um sie herum ein. »Um die Toten«, sagt sie.
Als er sich von dem Mädchen und von dem alten Küster verabschiedet hat, geht er in die Kirche. Das Mädchen hat ihm eine Tür gezeigt, die er benutzen kann, nicht die große, durch die einst die Leichname und die Trauernden gekommen sein müssen, sondern eine kleinere daneben, deren Sturz so niedrig ist, dass er den Kopf einziehen muss. Ein paar Schritte lang befindet er sich einer Vorhalle, schwarz wie die Hölle, dann gelangt er durch eine zweite Tür in den eigentlichen Kirchenraum. Er befindet sich im hinteren Teil des Südschiffs. Vor sich kann er einen Teil der Rosette über dem Altar sehen. Es ist kein Geräusch zu hören, und auch sonst deutet nichts darauf hin, dass noch jemand anders als er selbst anwesend wäre. Er beginnt sich von rechts nach links vorzuarbeiten, geht hinter Bänken vorbei, vorbei an träumenden Pfeilern, durchquert das Schiff, kommt an einem großen, mit einem Geländer versehenen Grabmal vorbei, auf dem ein Mann in Rüstung neben seiner metallenen Frau liegt, beider schlanke Hände zum Gebet gefaltet. Er erreicht die Nordwand, geht daran entlang bis zur Orgel.
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