Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Heute ist kein Armand Saint-Méard da. Jean-Baptiste ist ein wenig enttäuscht, aber auch erleichtert. Es wäre vielleicht beruhigend gewesen zu hören, wie der Organist den neuen Anzug bewundert. Andererseits hätte es natürlich auch schlicht das Vorspiel zu einem weiteren vergeudeten Tag des Trinkens und ziellosen Umherstreifens sein können.
Er setzt sich auf die Orgelbank, lässt die Finger über die Tasten gleiten. Rechts und links sind Reihen von Registern, Knöpfe aus elegant gedrechseltem Holz, einige anscheinend aus Elfenbein. Er zieht einen heraus, beugt sich vor, um zu entziffern, was daraufsteht, aber es ist in einer zu kunstvoll verschlungenen gotischen Schrift geschrieben und überdies nach Art einer chemischen Verbindung abgekürzt. Er schiebt den Knopf wieder zurück. Das Instrument ist in der ganzen Kirche das einzige, wofür er irgendein Interesse, irgendeine Vorliebe verspürt. Ob es sich retten lässt? Zerlegen, verpacken, einlagern, wieder zusammenbauen?
Er steht von der Bank auf, tritt in das Schiff und versucht, zwischen den Steinmetzarbeiten und Tafeln, den dichten und weniger dichten Schatten die Tür zur Rue aux Fers zu erkennen, als plötzlich aus irgendeinem undurchdringlichen Bereich von Dunkelheit eine Stimme herabdonnert, eine, die ihn fast zerschmettert.
» Du da! Wer bist du ?«
Schrecklich, so gesehen zu werden, gesehen zu werden, aber selbst nichts sehen zu können. Er starrt nach oben, zieht eine Grimasse, als rechnete er mit dem Flappen lederner Flügel.
» Du bist nicht der Musiker! Seine Schritte kenne ich. Wer bist du ?«
Echos in schwarzen Schwärmen unter dem Gewölbe. Unmöglich, den Ursprung auszumachen.
» Antworte mir, Schurke !«
Inzwischen sieht er die Tür, schafft es beim dritten Versuch, seinen Schlüssel ins Schloss zu stecken, stellt fest, dass es der Hausschlüssel der Monnards ist, findet einen anderen, dreht ihn herum, zieht an der Klinke …
» Wer bist du? Wer ?«
Und dann ist er draußen; draußen auf der Rue aux Fers. Die Straße wird nicht von Feuer verzehrt. Es sind keine Abscheulichkeiten wie aus den Bildern von Hieronymus Bosch zu sehen, keine bleichen Frauen, die Dämonen beiwohnen, keine gestrandeten Wale, die gequälte Seelen ausspeien. Am italienischen Brunnen arbeitet ein halbes Dutzend Wäscherinnen. Der Boden um sie herum funkelt. Zwei von ihnen schauen herüber, vielleicht weil sie sich wundern, jemanden aus der Kirche kommen zu sehen, einen Mann, einen, den sie nicht kennen, aber bald wenden sie sich wieder ihrer Arbeit zu, die kalten Arme ins kalte Wasser getaucht. Das Leinen wäscht sich nicht von selbst.
8
IN DAMAST GEHÜLLT , sitzt er in seinem Zimmer und blickt durch das Fenster, dessen Läden nicht vorgelegt sind, auf die Kirche. Die Sonne geht gerade unter, doch die Steine von Les Innocents werfen wenig von ihrem Licht zurück. Kurz erglühen die Fenster dunkelviolett von einem Feuer, das eher der Widerschein eines Brandopfers in der Kirche als etwas so Fernes und Freundliches wie eine rote Sonne Ende Oktober zu sein scheint. Dann flammt das Licht auf, erlischt, und die ganze Fassade fügt sich zu einförmiger Dunkelheit.
Er steht vom Stuhl auf, um festzustellen, ob er den Schimmer der ersten abendlichen Kerze im Haus des Küsters erspähen kann, aber da ist nichts, noch nicht. Vielleicht gehen sie wie normannische Bauern schlafen, wie die Tiere dieser Bauern, sobald es zum Arbeiten zu dunkel ist.
Ist das Mädchen einfältig? Er glaubt es nicht. Aber kann er sich auf ihre Beschreibung dessen verlassen, was er unter dem struppigen Gras finden wird, wenn er zu graben anfängt? Er muss es wohl, denn er hat wenig, woran er sich sonst orientieren könnte. Die Erinnerungen eines betagten Küsters, Kirchenbücher, die Generationen von Mäusen zur Speise gedient haben …
Er dreht den Stuhl herum und sitzt nun mit dem Gesicht zum Tisch. Er hantiert mit seiner Zunderbüchse, entzündet seine Kerze und schiebt sie dicht an den Rand des Buches heran, in dem er am Vormittag seine Aufzeichnungen notiert hat. Er studiert seine Skizzen, lässt den Finger über die Zahlen gleiten, versucht das Ganze als ein Problem reiner Ingenieurskunst zu sehen, wie es ihnen auf der Schule Maître Perronet auf dem Weg ins Büro beiläufig hätte stellen können. Soundso viele Quadratmeter Boden, soundso viele Wagenladungen … Schutt. Soundso viele Männer, soundso viele Stunden. Eine Berechnung. Eine Gleichung. Voilà! Er darf natürlich nicht
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