Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
vergessen, etwas Spielraum für Unvorhergesehenes zu lassen. Perronet hat immer darauf bestanden, auf einem Puffer, einer Lose im Tau für jenes Quentchen von Unsicherheit, das jedes Projekt durcheinanderbringt und das der naive Praktiker stets ignoriert, bis es zu spät ist.
Vorsichtig reißt er hinten aus seinem Notizbuch ein Blatt schlichtes Papier heraus, öffnet sein Tintenfass, taucht die Feder ein und beginnt zu schreiben.
Ew. Exzellenz,
ich habe eine erste Besichtigung sowohl der Kirche als auch des Friedhofs vorgenommen und sehe keinen Grund, die Arbeit, die Ew. Exzellenz mir anvertraut haben, weiter hinauszuzögern. Es wird erforderlich sein, mindestens dreißig kräftige Männer für den Friedhof und noch einmal ebenso viele für die Kirche zu dingen, die wenigstens zum Teil Erfahrungen in der Kunst des Abrisses haben sollten. Darüber hinaus werde ich Pferde, Wagen und einen tüchtigen Vorrat Bauholz benötigen.
Was den Friedhof angeht, so schlage ich vor, zusätzlich zur Entfernung der sterblichen Überreste aus den Krypten, Beinhäusern und Armengräbern das gesamte Erdreich bis auf eine Tiefe von zwei Metern abzutragen und aus der Stadt hinaus an irgendeinen unbewohnten Ort oder gar bis an die Küste zu schaffen und im Meer zu versenken.
Darf ich fragen, ob schon ein geeigneter Ort für die Aufnahme des menschlichen Materials vorbereitet worden ist? Und was soll in der Kirche selbst außer den Gegenständen von sakralem Charakter wie etwa Reliquien etc. erhalten bleiben? Es gibt beispielsweise eine Orgel deutscher Herkunft, die sich, wenn Ew. Exzellenz es wünschten, so abbauen ließe, dass sie erhalten bliebe.
Ich bin Ew. Exzellenz gehorsamster Diener
J-B Baratte, Ingenieur
Er hat keinen Sand, den er auf die feuchte Tinte streuen könnte. Er pustet darauf, reinigt die Spitze der Feder. Von unten kommt der dünne Klang der Essensglocke. Noch mehr Leichenfraß. Er streift den Hausrock ab, greift nach dem pistazienfarbenen Rock und bleibt dann, bevor er nach unten geht, einen Moment lang mit der Kerze in der Hand am Fenster stehen. Es ist natürlich nur eine Grille, ein ganz und gar wunderlicher Einfall, den er nur ungern jemandem würde erklären müssen, aber er bewegt die Kerze hin und her, als gäbe er ein Signal. Wem? Wer oder was könnte denn da unten auf diesem dunklen Feld sein und heraufsehen? Jeanne? Armand? Der Priester? Irgendwelche hohläugigen Wächter der Millionen von Toten? Oder irgendeine künftige Ausgabe seiner selbst, die in der kommenden Zeit steht und in einem Fenster hoch über sich ein Licht flackern sieht? Zu welchen Absonderlichkeiten ist sogar ein Verstand wie seiner fähig? Er darf ihnen nicht nachgeben. Sonst glaubt er am Ende noch an die Kreatur, von der der Minister gesprochen hat, den Hundewolf in den Beinhäusern.
Die Sterne über Paris sind Splitter einer gen Himmel geschleuderten Glaskugel. Die Temperatur sinkt. In ein, zwei Stunden werden auf dem Gras von Exerzierplätzen, Parks, königlichen Gärten und Friedhöfen die ersten Frostblumen blühen. Die Straßenlaternen blaken. In ihrer letzten halben Stunde brennen sie qualmig orange und beleuchten nichts als sich selbst.
In den Faubourgs der Reichen rufen Nachtwächter die Stunde aus. In den überfüllten Mietshäusern der Armen versuchen derbe Gestalten, sich in der Wärme von anderen zu verkriechen.
Bei den Monnards, in der Kammer unter den Ziegeln, kniet das Dienstmädchen Marie im Dunkeln. Sie hat den Läufer aufgerollt und presst das Auge an das Astloch über dem Zimmer des Mieters, dem Bett des Mieters. Den Musiker hat sie auch schon so beobachtet, aber sie hat das Loch nicht gemacht. Sie ist eine Woche nach ihrer Einstellung zufällig mit der Fußspitze darauf gestoßen.
Die Wärme im Zimmer des Mieters steigt als leicht verqualmte Säule auf, von der ihr das Auge juckt. Heute abend hat er ein Feuer angezündet, und es brennt noch zumindest so hell, dass sie ihn sehen kann, seine Gestalt unter der Bettdecke, den blassen Mund, die Glätte um seine geschlossenen Augen. Auf dem Tisch am Bett liegt ein aufgeschlagenes Buch, ein Stück Messing zum Abmessen. Schreibgeräte.
Was sie gern sieht, ist der Augenblick, der exakte Augenblick, in dem sie einschlafen. Sie ist auf ihre Art eine Sammlerin, und während mehr vom Glück begünstigte, begütertere Mädchen Fingerhüte oder schöne Knöpfe sammeln können, muss sie sich mit dem begnügen, was nichts kostet. Sie muss natürlich vorsichtig sein.
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