Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Das kleine Loch darf sie nicht verraten. Sie dürfen nicht aufblicken und über sich den Lakritzschimmer eines Menschenauges sehen.
Der da, der Neue, der Ausländer mit den grauen Augen, liegt auf dem Rücken, den Körper leicht nach rechts verdreht, den rechten Arm und die Hand über der Decke schräg nach unten gestreckt. Der Handteller zeigt nach oben, die Finger sind locker gekrümmt. Zittern sie, oder wirkt es nur aufgrund der Glut im Kamin so? Sie wischt sich das Auge, schaut erneut. Es ist, denkt sie, als hätte er aus dieser offenen Hand sich selbst fallen lassen, sein Verstand wie ein schwarzes Wollknäuel, das über den Boden rollt und sich dabei immer mehr abwickelt …
Zehn ruhige Straßen weiter östlich, im zweiten Stock eines Wohnhauses in der Rue des Ecouffes, liegt Armand Saint-Méard in einem ausladenden Bett neben einer ausladenden Frau, seiner Vermieterin und Geliebten Lisa Saget, verwitwete Mutter zweier lebender und zweier schon vor ihrem fünften Lebensjahr unter die Erde gekommener Kinder. Eher schlafend als wach schlüpft sie aus dem Bett, hockt sich auf einen Eimer, pinkelt, tupft sich mit dem Lappen ab, geht wieder ins Bett. Als sie sich hinlegt, wandert die Hand des Organisten schlaftrunken ihren Oberschenkel hinauf, spielt ein einziges, langsames Arpeggio auf ihrer warmen Haut und legt sich dann darauf, kommt zur Ruhe.
Weiter westlich – westlich des Friedhofs und des stillen Markts und so nahe bei der Kirche Saint-Eustache, dass in normaler Lautstärke Gesprochenes nicht zu verstehen ist, wenn die Glocken geläutet werden – sitzt Héloïse Godard, die Österreicherin, voll bekleidet auf dem Rand ihres Bettes und liest Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe.
Das Buch war, wie andere in ihrer Sammlung, eine Teilzahlung von Monsieur Ysbeau, einem sympathischen, gelehrten Herrn, der zwei große Bücherstände am Fluss betreibt. Jeden ersten Dienstag im Monat sucht sie sich aus den Kisten ein Buch aus, während er mit heruntergelassener Hose auf dem Hocker hinter ihr sitzt. Wenn sie sich zu ihm umdreht, muss sie Empörung heucheln, ihn in wohlgesetzten Worten ausschelten, worauf er sich entschuldigt, sich die Hose hochzieht und mit einem halben Dutzend abgezirkelter Bewegungen das Buch verpackt.
Dass sie lesen gelernt hat, verdankt sie ihren Eltern, Wirtsleuten an der Straße von Orléans nach Paris. Sie haben sie für das Gaststättengewerbe vorgesehen und ihr das ABC von einem curé beibringen lassen, der sich, wenn er sich mit ihr über ihre Fibel beugte, mit der Unterseite ihrer Unterröcke vertraut machte. Später erfuhr sie die gleiche Behandlung von seiten mehrerer anderer, freigiebigerer Stammgäste des Wirtshauses, oft direkt unter den Augen ihrer Eltern, die einen solchen Umgang als akzeptable Folge ihres Gewerbes zu betrachten schienen und Héloïses Tränen, ihre stumm flehenden Blicke zu ignorieren beschlossen, bis sie endlich gelernt hatte, nichts von ihnen zu erwarten und vor ihnen und vor aller Welt jeden Hinweis darauf zu verbergen, was sie empfand.
Kerzen sind ihr großer Luxus. Sie liest nur nachts, in der Stille und Ungestörtheit der Nacht. Sie zündet immer zwei, ja drei gleichzeitig an. Sie kann es sich nicht leisten, morgens mit blutunterlaufenen Augen aufzutreten. In der kalten Jahreszeit behält sie zum Schutz gegen die Kälte im Zimmer ihren Mantel an. Der arme Werther ist verliebt. (»›Ich werde sie sehen!‹ ruf’ ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke.«) Wird es böse enden? Ysbeau wollte es ihr nicht sagen und lächelte nur, als wunderte er sich, dass eine Frau wie sie an Liebesgeschichten Geschmack findet. Sie ist ganz gewiss kein verträumtes Mädchen, keine Unschuld. Sie weiß Bescheid über Männer, weiß sehr viel darüber, wie es in der Welt zugeht. Doch was auch immer man durchgemacht hat, es fällt schwer, die Liebe aufzugeben. Fällt schwer, sie sich nicht mehr als ein Zuhause vorzustellen, das man eines Tages vielleicht wiederfindet. Mehr als schwer.
Sie leckt einen Finger an, blättert um.
In der Kirche, in der Sakristei, ist Père Colbert ebenfalls wach. Er hat so etwas wie ein Bett, ein Rollbett, mit einer Matratze aus Lumpen, meistens aber schläft er im Sitzen, den großen Kopf schlaff auf der Brust, auf dem hölzernen Lehnstuhl. Er sabbert, wenn er schläft. Das schwarze Tuch auf seiner Brust ist feucht, wenn er aufwacht. Es ist nicht
Weitere Kostenlose Bücher