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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Colbert ihn trinken wird.«
    »Gut«, sagt Jean-Baptiste. »Danke.«
    »Wir sind eine Maschine!« frohlockt Lecoeur, dessen schon zweimal geleertes Glas sich irgendwie wieder gefüllt hat. »Wir sind aufgezogen worden, und nun laufen wir.«
    »Tick, tack, tick, tack«, sagt Armand. Jeanne kichert.
    »Kommen Sie mit?« fragt Jean-Baptiste Armand.
    »Ich glaube, ich bleibe vielleicht noch ein Weilchen«, sagt Armand.
    Kurzes Schweigen.
    »Na schön. Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«
    Im Hinausgehen zupft er gereizt an seinem Mantelkragen. Will Armand ihn zum Narren machen? Hat er etwas mit Jeanne vor? Man kann nur hoffen, dass Lisa Saget ihn am kurzen Zügel führt.
    An der Pforte zur Rue aux Fers dreht er sich noch einmal um und betrachtet die seltsame, flackernde Bühne, die er geschaffen hat. Aus einem der Zelte dringt Gesang, etwas Gedämpftes, sich periodisch Wiederholendes, eine Ballade, vielleicht eine Klage. Einige Augenblicke lang hört er zu, dann geht er hinaus auf die leere Straße, schließt und versperrt die Pforte. Falls Armand überhaupt die Absicht hat zu gehen, soll er sich durch die Kirche seinen Weg ins Freie tasten.
    Im Haus in der Rue de la Lingerie vermeidet er die Begegnung mit den Monnards, geht mit seiner Kerze so leise er kann an der Wohnzimmertür vorbei. Sie werden, wie jeder andere, die Feuer gesehen haben – sie könnten kaum einen besseren Blick darauf haben –, und angesichts ihrer unerklärlichen Gegnerschaft gegen sein Vorhaben hat der Anblick sie wohl kaum in Feierstimmung versetzt. Wenn er sich zu ihnen setzt, werden sie ihn mit Schweigen tadeln und mit Seufzern schelten. Er hat keine Ahnung mehr, was er ihnen sagen soll.
    In seinem Zimmer zieht er die Stiefel aus. Vom Schnaps spürt er ein leichtes Stechen in der Brust. Er stößt auf, dann beugt er sich über das Bett, um zum Fenster hinauszuschauen. Leichter Regen hat eingesetzt. Es ist nichts zu sehen außer den Lichtpunkten der Feuer, die dicht von Dunkelheit umschlossen sind.
    Er legt die Läden vor, setzt sich an den Tisch und zieht sein Notizbuch zu sich heran. Er hat in der zurückliegenden Woche ein paarmal daran gedacht, ein Journal zu beginnen, einen Bericht über die Zerstörung des Friedhofs, etwas Technisches, aber auch Philosophisches, vielleicht sogar Geistreiches, das er eines Tages im Rahmen einer kleinen Feier in der Schule Maître Perronet übereichen könnte. Er spielt mit der Feder, dreht sie zwischen den Fingern. Er hätte bei den anderen bleiben, mehr Schnaps trinken, ein wenig lachen sollen. Es hätte ihm gutgetan, wäre besser gewesen, als unschlüssig hier herumzusitzen.
    Er zieht den Korken aus dem Tintenfass, taucht die Feder ein, schreibt oben auf eine neue Seite das Datum und darunter: »Heute sind sie gekommen, dreißig arme Männer, angeführt von einem, dessen Anwesenheit zu bedauern ich vielleicht noch Grund haben werde. Schon widert die Arbeit mich an, dabei haben wir noch nicht einmal damit begonnen. Ich wünschte zu Gott, ich hätte nie von Les Innocents gehört.«
    Er klappt das Buch zu, schiebt es von sich weg, reglos wie ein Verurteilter. Dann zieht er das Buch wieder zu sich heran, schlägt es auf, liest, was er geschrieben hat, taucht die Feder ein und streicht systematisch jeden einzelnen Buchstaben mit einem glänzenden X aus, bis die Zeilen verborgen, unleserlich, begraben sind.
     
    Einer von ihnen spricht; die anderen hören zu. Es regnet immer noch, aber nicht kräftig genug, um die Feuer zu löschen. Ein trübes rotes Licht dringt durch die offene Eingangsklappe des Zelts. Es beleuchtet den unteren Teil der Körper, lässt die Gesichter jedoch im Schatten. Derjenige, der spricht, trägt von Kopf bis Fuß helle Kleidung und sitzt auf einem Thron aus Holzklötzen; die anderen hocken oder knien im Stroh. Eine Predigt? Eine Geschichte? Wer diese Sprache nicht kennt, die, auch wenn sie leise gesprochen wird, wie das Aneinanderreiben und -klopfen von Schiefer auf Schiefer klingt, könnte so etwas wie ein Vorschriften-Machen, ein leises Erteilen von Anweisungen vermuten. Ab und zu kommt von den Zuhörern eine Antwort, ein zustimmendes Gemurmel. Der Sprecher bewegt die Hände, führt sie zusammen, löst sie voneinander. Das obere Glied des Mittelfingers seiner linken Hand fehlt, er endet in einem platten, aus hautumhüllten Knochen bestehenden Stumpf.
    Er hält inne, dann bückt er sich nach etwas, das zu seinen Füßen liegt, hebt es auf wie etwas Lebendiges, etwas, was

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