Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Die Oberfläche, fahles, büschelartiges Gras, verrät nichts. Wenn das tatsächlich der Ort ist, so hat es kein dauerhaftes Denkmal für diejenigen gegeben, die dort verscharrt worden sind.
Er steht am Seil, sieht den näher kommenden Männern entgegen. Er begrüßt sie, gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sie eine ruhige Nacht verbracht haben; dann teilt er sie mit Lecoeurs Hilfe in drei Gruppen auf. Diejenigen, die graben, diejenigen, die die Gebeine einsammeln, und diejenigen, die sie aufeinanderstapeln werden. Dies getan, werden diejenigen, die zum Graben bestimmt worden sind, über das Seil geschickt.
»Die Erde«, sagt der Ingenieur, »wird auf dieser Seite hier aufgehäuft. Wenn die Grube leer ist, wird die Erde mit Ätzkalk vermischt und in die Grube zurückgeschaufelt. Was die Gebeine angeht, so werden sie zu gegebener Zeit auf die andere Seite der Stadt an ihren neuen Ruheplatz befördert.« Er hält inne. Ein paar von den Männern bewegen den Kopf. Die anderen sehen ihn bloß an.
Es ist sehr still, eine winterliche Stille. Jeanne und ihr Großvater stehen ein Stück weit vom Seil entfernt ruhig beieinander. Jean-Baptiste blickt zu ihnen hinüber. Er lächelt sie an oder versucht es zumindest, aber sein Gesicht ist kalt, und was hätte so ein Lächeln schon zu bedeuten? Er wendet sich dem ihm nächststehenden Bergmann zu. Joos Slabbart oder Jan Biloo. Jan Block vielleicht. Er nickt. Der Mann nickt zurück, hebt den Stiel seines Spatens. Der Boden wird geöffnet.
Sie graben drei Stunden lang, ehe Jean-Baptiste Lecoeur auffordert, die erste Pause zu verkünden. Viel gab es in diesen ersten Stunden nicht zu sehen. Die Toten scheinen zu Splittern, zu Fragmenten zerfallen zu sein, als hätte die Grube sie zerkleinert wie der Mund eines alten Mannes trockenes Brot. Graben sie an der richtigen Stelle? Hat sich der Küster geirrt? Er und Jeanne sind ins Haus zurückgekehrt, aber nach der Pause gibt die Grube allmählich ihre Schätze preis, und jeder zweite Spatenstich fördert ein erkennbares Gebilde zutage. Einen Kiefer mit einer Reihe von Zähnen, die so aussehen, als könnten sie immer noch zubeißen. Der ganze Feinbau eines Fußes, Rippen wie die Dauben eines alten Fasses. Der Knochenhaufen wird zur niedrigen Knochenmauer. Holz findet sich keines, nicht ein Splitter, nichts, was darauf schließen ließe, dass die Männer und Frauen, die in diese Grube wanderten, mehr als den Schutz ihrer Leichentücher hatten.
Lisa Saget kündigt das Mittagessen an, indem sie mit einer Schöpfkelle gegen einen Topfboden schlägt. Welches Unbehagen an ihrer Arbeit die Männer auch empfunden haben mögen, es scheint ihnen nicht den Appetit verschlagen zu haben. Jean-Baptiste und Lecoeur verharren am Rand der Grube. Lecoeur sieht nicht gut aus. Er hat sich das Halstuch über Mund und Nase gezogen.
»Wir werden nach dem Essen ein Feuer anzünden«, sagt Jean-Baptiste. »Vielleicht hilft das ja ein wenig.«
Lecoeur nickt.
»Willst du denn nichts essen?« fragt Jean-Baptiste.
»Ich sollte zuerst etwas zur Beruhigung meines Magens nehmen«, sagt Lecoeur, die Stimme gedämpft, sonderbar und gedämpft.
»Ja«, sagt Jean-Baptiste. »Ich werde Armand bitten, noch Schnaps zu holen. Wir können alle einen Schluck vertragen, bevor wir wieder anfangen.«
Für die Nachmittagsschicht werden drei der Ausgräber den Knochensammlern zugeteilt. Innerhalb des Seilvierecks sehen sich fast alle irgendwann auf Knochen stehen. Außer Knochen finden sich zunehmend auch andere Gegenstände und werden nach oben gereicht. Ein verbogenes Metallkreuz, grün angelaufen. Eine fast ganz kaputte Brosche in Form einer Rose. Ein Teil eines Spielzeugpferds, aus Zinn gegossen. Knöpfe. Eine sehr alt aussehende Schnalle. Noch nichts Wertvolles. Und falls etwas Wertvolles gefunden würde? Wer ist dann der rechtmäßige Besitzer? Der Mann, der es entdeckt hat? Der Küster? Der Ingenieur? Vielleicht ist es der Minister.
Zuweilen scheinen die Männer, alle miteinander, wie von Wellen des Ekels gepackt. Ihre Augen schließen sich, sie zittern, sie zögern, dann spuckt einer in die Faust, ein Stiefel oder Holzschuh fährt entschlossener auf die Spatenkante nieder, und der Rhythmus ist wiederhergestellt.
Als die Glocken um vier Uhr läuten, schwindet das Licht, und die Männer, deren gebeugte Köpfe inzwischen unter Bodenhöhe sind, sehen von oben aus, als würden sie Schatten ausgraben. Fackeln werden in die Grubenwände getrieben. Nun ist es wahrhaftig ein
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