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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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aufwachen und davonfliegen könnte. Es ist ein kurzer Stock, vielleicht auch der hohle Stengel einer Pflanze – Fenchel, Bärenklau. Er legt den Kopf zurück, pustet sanft gegen das untere Ende. Am oberen Ende erschient ein Glutpunkt, wird zum Funken, wird zum Flämmchen, zur Flammenzunge, deren Licht das nach oben gekehrte Gesicht des Mannes, seine zusammengekniffenen Augen bescheint. Die anderen sitzen da und sehen zu. Etwas wird absorbiert. Dann erneut Worte, drei oder vier gewichtige Worte, die seine Zuhörer mit einer Stimme wiederholen, die nicht lauter ist als der Regen. Und dann ist es getan; es ist vorüber. Sie stehen vom Stroh auf, verlassen im Gänsemarsch das Zelt, einige blicken dabei flüchtig auf die alte Kirche, andere auf die Beinhäuser. Leise wie Gespenster suchen sie ihre Zelte auf. In den blauen Hüllen von Regenwolken verstreicht leise die Nacht über ihnen. Der Friedhof kommt zur Ruhe.

4
     
    A M MORGE N, AL S er die Augen aufschlägt, ist es um die Läden herum schon hell. Er tastet nach seiner Uhr, klappt den Deckel auf (das allsehende Auge) und hält sie an eine der fragilen Fäden von Tageslicht. Viertel nach acht! Er öffnet die Läden und schaut hinab. Die Zelte sind noch da, das große Feuer brennt kräftig, zwischen den Latrinen und den Zelten bewegen sich Gestalten. Der Farbfleck, der das feuchte Gras überquert, ist Jeanne, und die kräftig gebaute Frau neben ihr muss Lisa Saget sein. Da ist Lecoeur, im Gespräch mit einem der Männer. Und da ist Armand! Armand, der sich nützlich macht, während er, der Ingenieur, der Hauptmann, noch im Bett liegt!
    Viel anzuziehen gibt es nicht; er hat vergangene Nacht nicht viel ausgezogen. Er knöpft sich die Weste zu, zieht sich die Stiefel, den Hut an, poltert, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und kommt an der Kellertür vorbei, einer Tür, die sich stets hinter einem dünnen Schattenvorhang zu befinden scheint …
    Auf dem Friedhof wird er angegrinst; angegrinst besonders von Armand, doch niemand ist so unfreundlich, eine Bemerkung zu machen. Alle sind beschäftigt, auf ruhige Weise beschäftigt. Er ist erfreut, erleichtert, den Leuten dankbarer, als er zum Ausdruck zu bringen wagt. Jeanne drückt ihm eine Schale Kaffee in die Hände, und bevor er sich bedanken kann, ist sie aus dem Haus gegangen, um ihrem Großvater und Lisa Saget bei einer kleinen Erweiterung der Küche zu helfen – eine Feuerkammer, ein Rost, ein paar Eisenhaken zum Aufhängen der Töpfe, ein Baldachin aus Zelttuch, um den Regen abzuhalten. Er hätte selbst vorhersehen müssen, dass das notwendig war: in einer Küche, die so groß ist wie die des Küsters, kann man nicht für fünfunddreißig Leute kochen. Was hat er sonst noch zu bedenken versäumt? Er trinkt den Kaffee, lässt sich von der heißen Flüssigkeit fast Zunge und Kehle verbrühen.
    Das Arbeitszimmer neben der Küche ist Lecoeurs Quartier geworden. Jean-Baptiste schaut hinein, sieht, dass das Bett bereits ordentlich gemacht ist, entweder von Lecoeur selbst oder von Jeanne. Am Fußende des Bettes steht eine nicht sonderlich große Tasche, in der ein paar Bücher zu sehen sind. In der Luft im Zimmer ist neben dem feuchten Gipsgeruch der Friedhofsbücher ein unverkennbarer Hauch von Schnapsausdünstung wahrzunehmen.
    Er sucht nach Lecoeur und findet ihn bei einem der alten Grabmäler, einem jener verwitterten, kunstvoll behauenen Klötze, die auf ausgefallene Weise in den Boden eingesunken sind wie das versteinerte Wrack eines kleinen Bootes.
    »Vielleicht findet sich darunter eine ganze adlige Familie«, sagt Lecoeur und klopft leicht auf den feuchten Stein, »aber die Inschrift ist dermaßen verwittert, dass ich kaum den Namen erkennen kann. Kannst du ihn lesen?«
    Jean-Baptiste betrachtet ihn. Rohan. Rohring. Roche. »Nein«, sagt er. Dann: »Wir sollten jetzt anfangen.«
    »Zu graben?«
    »Ja.«
    »Unser Alexander hat gesprochen«, sagt Lecoeur, der womöglich immer noch nicht ganz nüchtern ist.
    »Bitte bring die Männer zu der Stelle, wo der Boden markiert ist«, sagt Jean-Baptiste, »wir treffen uns dann dort.«
    Es handelt sich, soweit Jean-Baptiste weiß – soweit Jeanne und ihr Großvater ihn informieren konnten –, um das älteste der noch bestehenden Armengräber, ein Quadrat von etwa sieben mal sieben Metern, das er mit Seil und Pflöcken in der Nordwestecke markiert hat, in der Nähe der Stelle, wo jenseits der Mauer die Rue aux Fers auf die Rue de la Lingerie trifft.

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