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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Spektakel: ein Trupp Männer in einem roten Loch, die Knochen unter ihren Füßen hervorhebeln. Die Knochenmauer nimmt die ganze Länge einer Grubenseite ein und erreicht inzwischen Schulterhöhe. Die letzte Stunde mutet wie ein Tag für sich an. Jean-Baptiste hat die Schnapsflasche neben sich im Gras liegen. Ab und zu – die Abstände werden immer kürzer – gibt er sie weiter, sieht zu, wie sie zwischen ihnen die Runde macht und nimmt sie, leichter als zuvor, zurück. Um Viertel vor sechs gibt er das Zeichen zum Aufhören. Später, das weiß er, wird er darauf bestehen müssen, dass sie nachts arbeiten, aber jetzt noch nicht. Er könnte es selbst nicht; also kann er es auch nicht von ihnen verlangen.
    Er findet Lecoeur, und sie gehen schweigend zum Haus des Küsters. Sie stellen sich ans Küchenfeuer.
    Nach ein, zwei Minuten sagt Lecoeur, an das Feuer gewandt, leise: »Du lieber Gott.«
    »Morgen wird es leichter gehen«, sagt Jean-Baptiste.
    Lecoeur wendet sich ihm zu und grinst plötzlich. »Morgen wird es uns das Herz brechen«, sagt er.

5
     
    DE R ZWEIT E TA G : Sie schuften schon seit einer Stunde, als die Konzentration des Ingenieurs durch einen schrillen Pfiff gestört wird und er im Umdrehen Armand sieht, der ihn in Richtung Kirche winkt. Er geht hin. Armand teilt ihm mit, dass drei Männer ihn sprechen wollen.
    »In der Kirche?«
    »In der Kirche.«
    »Kennen Sie sie?« fragt Jean-Baptiste.
    »Keinen einzigen«, sagt Armand, der neben ihm Tritt fasst.
    Die Männer stehen im Mittelschiff neben einem Pfeiler, an dem wie ein besserer Suppenteller die Überreste eines breitkrempigen Kardinalshuts hängen. Einer der Männer ist Lafosse. Die anderen beiden sind ihm fremd.
    »Monsieur«, sagt Jean-Baptiste zu Lafosse. Die anderen Männer stehen einfach nur da und lächeln leicht. Jean-Baptiste stellt Armand vor.
    »Ein Organist?« sagt einer der Fremden. »Sie spielen natürlich auch Couperin?«
    »Ich spiele sie alle«, sagt Armand.
    »Ich würde gern etwas hören«, sagt der Fremde, »bevor die Orgel abgebaut wird. Den Parnass vielleicht.«
    »Nur Musik ist unsterblich«, sagt Armand.
    »Diese Männer«, sagt Lafosse und richtet den Blick auf Jean-Baptiste, »sind Ärzte. Sie werden bestimmte Untersuchungen durchführen. Sie, Monsieur, werden sie in jeder Hinsicht unterstützen.«
    »Exhumierungen in dieser Größenordnung«, sagt der Couperin-Bewunderer, ein wohlhabend wirkender, gutgepolsterter Herr um die Fünfzig, »sind ganz und gar einmalig. Jedes Stadium der Zersetzung wird zu beobachten sein, bis hin zur letzten Handvoll Staub.«
    »Früher«, beginnt sein Kollege, ein eher eckiger, etwas schmächtiger gebauter Mann, »hat man die Reise des Menschen vom Augenblick seiner Geburt bis zum Augenblick seines Todes bemessen. Vom ersten bis zum letzten Atemzug. Doch dank der scharfen Klingen unserer Anatomen wissen wir nun auch viel über die Monate, in denen wir unsichtbar im Leib unserer Mütter liegen. Ihre Arbeit hier, Monsieur, wird uns ein höchst vollständiges Bild von unserem Schicksal nach jenem Ereignis liefern, das wir Tod nennen.«
    »Von unserem körperlichen Schicksal«, sagt sein Kollege in amüsiertem Ton und deutet auf die Stelle, wo im Halbdunkel der Altar kauert.
    »Wohl wahr, wohl wahr«, sagt der andere. »Den Rest müssen wir der Weisheit von Mutter Kirche überlassen.«
    »Richten Sie einen Platz für sie ein«, sagt Lafosse. »Irgendwo, wo sie ungestört arbeiten können.«
    Von hoch über ihren Köpfen kommen leise, aber deutlich hörbare Geräusche, die vielleicht nur von den Bewegungen der dort nistenden Vögel herrühren, doch Jean-Baptiste fängt Armands Blick auf und versichert die Ärzte rasch jeglicher Unterstützung, die sie benötigen. Er möchte nicht, dass Père Colberts Stimme wieder auf ihn herabdonnert, dass deutlich wird, wie wenig Einfluss er hier hat.
    »Dann hätten wir alles besprochen«, sagt Lafosse. Er dreht sich unsicher um, als suchte er nach dem Ausgang.
    »Ich bin Dr. Thouret«, sagt der schmächtigere der beiden Fremden, als ihm schließlich klar wird, dass der Beauftragte des Ministers sie nicht vorstellen wird. »Mein Kollege hier« – der Kollege lächelt huldvoll – »ist Dr. Guillotin.«
     
    Nach dem Mittagessen bauen die Männer unter Jean-Baptistes Anleitung aus drei dicken, miteinander verlaschten Stangen, einem Rad und einem Stück Kette einen Flaschenzug. Aus Zelttuch machen sie eine Bündeltasche, die sich an das Ende der Kette anhängen

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