Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
lässt. Sie bauen zwei Leitern mit soliden, gut befestigten Sprossen. Sie schüren das Feuer. Dann machen sie sich wieder an die Arbeit.
Mit seinem Lot ermittelt Jean-Baptiste, dass der Boden der Grube etwas über dreizehn Meter tief liegt. Die Knochenwand wird bald so hoch sein, dass die Männer nicht mehr hinaufreichen können. Eine solche Menge wäre weniger beunruhigend, wenn er nicht am Vorabend eine Nachricht von der Porte d’Enfer bekommen hätte, in der man ihm mitgeteilt hat, dass es aufgrund einer nicht verzeichneten Quelle zu einem Wassereinbruch gekommen sei und es einige Zeit dauern werde, bis man Material aus Les Innocents übernehmen könne. Es gab keinerlei Hinweis darauf, ob damit Tage, Wochen oder Monate gemeint waren. Bei der derzeitigen Ausbeute würde der Friedhof schon nach wenigen Wochen zum Labyrinth werden. Sie würden sich in Gängen aus Gebein verirren.
Die einzelnen Gruppen – Gräber, Sammler, Aufstapler – wechseln sich stündlich ab. Dass niemand länger als zwei Stunden auf dem Boden der Grube bleiben darf, ist offensichtlich. Gegen Ende des Nachmittags – es ist einer jener Tage, an denen das Licht darum kämpft, sich durchzusetzen, zu überzeugen – hält einer der Männer, der am Ende seiner Schicht die Leiter heraufsteigt, plötzlich inne, lässt die Sprosse los und fällt nach hinten. Zum Glück wird sein Sturz nicht von den Köpfen seiner Kameraden abgefangen. Er wird in der Beuteltasche nach oben befördert.
»Es ist Block«, sagt Lecoeur, der sich neben den Mann kniet. »Jan Block.«
Oben, an der Luft, regt sich Block, schaut um sich und kommt, noch immer aschfahl, auf die Beine.
»Er soll in sein Zelt gehen, wenn er möchte«, sagt Jean-Baptiste. Schon hat er jemand die Worte »böses Wetter« murmeln hören. Alle kennen das, und alle werden in Valenciennes schon gesehen oder davon gehört haben, wie jemand in einem Element ertrunken ist, das man nicht wahrnehmen kann. Natürlich ist es abwegig zu glauben, es könnte auch in der Grube existieren, aber er ordnet eine Pause an und lässt sie die Flasche herumreichen. Sie sehen ihn an. In ihrem Blick erkennt er nichts, was er benennen könnte. Nach fünfzehn Minuten schickt er eine neue Gruppe die Leiter hinunter.
Zu den Gegenständen, die an diesem Tag gefunden werden, zählen: eine grüne Münze aus der Zeit Charles’ IX. ; eine verrostete, aber noch erkennbare Halsberge; ein Ring mit einem Kreuz darauf – nicht wertvoll; noch mehr Knöpfe; eine Messerklinge – wozu? Zum Gebrauch im Jenseits? Ein merkwürdiges kleines Stück gefärbtes Glas, herzförmig, ziemlich hübsch.
Letzteres spült der Ingenieur ab, als er sich am Abend die Hände wäscht, und schenkt es, einer Laune folgend, oder weil er schlicht nicht weiß, was er sonst damit anfangen soll, Jeanne, die es mit einem seltsamen, feierlichen Lächeln entgegennimmt.
6
EI N MAN N LÄUF T WEG , läuft mitten in der Nacht mit seinem Bündel weg. Niemand hat ihn gehen sehen; niemand hat ihn gehört. Sogar die Männer in seinem Zelt sehen überrascht aus, beunruhigt, als wäre er womöglich weggezaubert worden, vielleicht von etwas, was sie in der Grube aufgestört haben. Lecoeur erbietet sich, einen Suchtrupp zu seiner Verfolgung zusammenzustellen. Weit kann er nicht gekommen sein, und bestimmt fällt es ihm schwer, sich in einer Stadt zu verstecken, in der er sich nicht auskennt.
»Es sind keine Gefangenen«, sagt Jean-Baptiste. »Und es sind auch keine Schuldknechte.«
»Die Männer erwarten eine feste Hand«, sagt Lecoeur, der sich an diesem Morgen beim Rasieren in den Hals geschnitten hat. »Haben wir sie denn nicht aus den Bergwerken gerettet?«
»Ich weiß nicht«, sagt Jean-Baptiste mehr zu sich selbst als zu Lecoeur, »wen wir gerettet haben.«
Von den anderen fehlt keiner; allerdings ist der Mann, der von der Leiter gefallen ist, Jan Block, nicht arbeitsfähig, und Jean-Baptiste besucht ihn in seinem Zelt, wo er auf seinem Strohbett liegt wie Holbeins Christus. Seine Augen folgen der dunklen Gestalt des Ingenieurs, als dieser zum Zelteingang hereinkommt und dann im Licht des Zelts vor ihm steht.
»Hast du Schmerzen? Tut dir etwas weh?«
Mit der Spitze einer fahlen Zunge befeuchtet sich Block die Lippen, sagt etwas und wiederholt es noch zweimal, bis Jean-Baptiste es versteht.
»Du frierst?«
»Ja.«
»Wir werden dir mehr Decken bringen. Wir bringen dir etwas Warmes zu trinken.«
Block blinzelt. Der Ingenieur geht hinaus. Als er Jeanne
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