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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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gefunden hat, fragt er sie, ob sie den Kranken besuchen, ihm Kaffee oder Brühe bringen könnte. Und gibt es noch irgendwo eine Decke? Der Mann klagt über die Kälte.
    In der Grube sind die Männer unter Lecoeurs Leitung bereits bei der Arbeit. Feuer, Flaschenzug, Leitern. Das hohle Geräusch, mit dem Knochen auf Knochen gelegt werden. Ein einfacher Ruf von unten macht die Arbeiter oben darauf aufmerksam, dass die Beuteltasche gefüllt ist und hochgezogen werden kann. Inzwischen sind sie so weit unten, dass sie auch am Morgen Lichter brauchen, vier Fackeln, die aus den Wänden ragen und flackernd brennen. Jean-Baptiste bückt sich, versucht den Zustand der Wände zu erkennen. Bröckelt die Erde? Besteht die Gefahr eines Einsturzes? Könnte man die Männer rasch genug herausholen, falls eine Seite der Grube einstürzte?
    Er kommt zu dem Schluss, dass er selbst hinuntersteigen und nachsehen muss (es wird Zeit, dass er hinuntersteigt), schwingt sich ohne Ankündigung auf die nächste Leiter und beginnt abzusteigen. Er ist sich bewusst, dass unter- wie oberhalb von ihm jegliche Arbeit zum Erliegen gekommen ist, dass sie ihn beobachten. Seine Füße tasten nach den Sprossen. Der Himmel weicht zurück. Die Luft wird stickiger.
    Als er unten von der Leiter steigt, gerät er kurz aus dem Gleichgewicht und muss sich am Ellbogen des Nächststehenden festhalten. Nun, da er hier unten ist, müsste er ihnen eigentlich sagen, dass sie weiterarbeiten sollen, aber es ist so wenig Platz. Er sieht sie an, ihre länglichen Gesichter werden von oben vom Feuer und vom schwachen Morgenlicht erleuchtet. Er betrachtet die schwarzen Wände, betrachtet, worauf er steht, blickt auf zu der Stelle, wo Lecoeur Kopf und Schultern über den Grubenrand beugt. Er nimmt dem Mann, gegen den er getaumelt ist, den Spaten aus den Händen, drückt das Blatt in die Erdwand, dreht es und sieht zu, wie sich als feuchter Klumpen ein Stück aus der Wand löst. Er prüft die gegenüberliegende Wand auf die gleiche Weise und mit dem gleichen Ergebnis. Er gibt das Werkzeug zurück, stellt einen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter, wird von einer Welle der Übelkeit gepackt, die er Gott sei Dank beherrschen, vorübergehen lassen kann. Er klettert, kommt oben an, gewinnt auf dem Gras das Gleichgewicht wieder.
    Zu Lecoeur, der dicht neben ihn getreten ist, sagt er heiser: »Wir werden Aussteifungen bauen. Verschalungen, um die Wände zu sichern. Hol die Männer heraus.«
    An passendem Baumaterial herrscht kein Mangel: Monsieur Dejour muss die Hälfte des verkäuflichen Holzes in Paris gehortet haben. Sie schneiden Pfosten und Streben zu, improvisieren Bodenbretter und Klampen. Es ist schön, mit dem Holz zu arbeiten, und als die Männer nach dem Mittagessen wieder hinuntersteigen, ist ihre Stimmung, wie es scheint, etwas besser. Am späten Nachmittag misst die Lotleine eine Tiefe von fast siebzehn Metern. Inzwischen befördert die Beuteltasche mehr Erde als Gebeine nach oben. Bei Einbruch der Dunklheit werden sie fertig sein! Werden eines der Armengräber von Les Innocents geleert haben!
    Die letzte Schicht der Ausgräber kommt um halb sieben nach oben. Ein Wintermond scheint den Männern ins Gesicht, bescheint die Knochenmauer, die inzwischen weniger wie das aussieht, was sie ist – das makabre, erbärmliche Überbleibsel unzähliger Leben –, sondern eher wie eine gute, mühsam eingebrachte Ernte. Jean-Baptiste nimmt seinen Hut ab, reibt sich das Haar, sein eigenes Haar, das er sich zu beinahe respektabler Länge hat wachsen lassen, genau wie es Charvet vorgeschlagen hat. Die Bergleute marschieren in einer Reihe von ihm weg, einige tragen den Spaten wie eine Muskete über der Schulter. Ein guter Tag. Ein kleiner Sieg für hartnäckige, schwere Arbeit, dafür, dass er die Nerven behalten hat. Am Grubenrand beglückwünschen er und Lecoeur einander leise. Sie geben sich die Hand.
     
    Am nächsten Morgen ist er weniger zufrieden mit der Welt. Er hat schon wieder schlecht geschlafen, ist zu irgendeiner unchristlichen Zeit mit wild klopfendem Herzen aufgewacht, um dann stundenlang dazuliegen und im Geist eine Grube nach der anderen auszuheben, bis er es satt hatte, aus dem Bett stieg und sich im Dunkeln anzog.
    Auf dem Friedhof geht es Jan Block, bei Lampenlicht betrachtet, offenbar schlechter. Ein feiner Schimmer wie der von verdorbenem Käse überzieht seine Haut. Sein Atem geht mühsam, schafft keine Linderung. Vielleicht stirbt er, durchaus vorstellbar, nur

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