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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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weiß der Himmel«, sagt Jean-Baptiste, der früher am Tag beobachtet hat, wie zwei Tischplatten und vier Böcke hineingetragen wurden, dazu ein schwerer Lederbeutel, der beim Tragen klirrte.
    In der Küche ist nur der alte Küster, der auf seinem Stuhl schläft, doch nach wenigen Augenblicken erscheint Jeanne am Fuß der Treppe, ein sanftes Strahlen im Gesicht, als hätte sie es gerade in frischem kaltem Wasser gewaschen. »Er schläft«, sagt sie, »und hat alle seine Medikamente genommen.«
    »Block?« fragt Jean-Baptiste.
    Sie nickt. »Der Doktor sagt, er wird morgen wieder nach ihm sehen, wenn er dazu kommt.«
    »Gut. Danke, Jeanne. Ich bin dir sehr dankbar.«
    »Und Ihre Medizin steht auf dem Kaminsims«, sagt sie. »Da.«
    »Deine?« fragt Lecoeur
    »Dr. Guillotin schien der Meinung zu sein, ich bräuchte Hilfe beim Schlafen.«
    »Ah, Schlaf«, sagt Lecoeur. »Ja. Auch mir ist Morpheus in letzter Zeit kein Freund. Ich bin nachts so unruhig wie ein Hase.«
    »Dann sollst du die Hälfte davon bekommen«, sagt Jean-Baptiste und mustert das dicke braune Glas, das verkorkt ist und kein Etikett trägt. »Bestimmt ist genug für uns beide darin.«
    Er lässt Lecoeur bei Jeanne und ihrem Großvater und begibt sich, das halbgeleerte Fläschchen in seiner Manteltasche, in die Rue de la Lingerie. Er sollte vor dem Schlafengehen noch ein paar Abrechnungen erledigen, und morgen muss er bei dem Goldschmied in der Rue Saint-Honoré weiteres Geld holen. Es sind Händler zu bezahlen, außerdem die Männer und ein namhafter Betrag für Lecoeur, für Jeanne und ihren Großvater, für Armand und Lisa Saget. Er schuldet Monsieur Monnard einen Monat Miete. Er möchte nicht gern damit in Rückstand geraten, um dem Hausherrn keinen weiteren Grund zu liefern, ihm am Zeug zu flicken. Auf der Treppe zum Wohnzimmer trifft er Marie, die mit einem Tablett voller Teller herunterkommt. Die Teller sind mit kleinen Knochen übersät. Sie schneidet ein Gesicht, eine kleine Grimasse, die im Faubourg Saint-Antoine vielleicht irgendeine bestimmte Bedeutung hat. Er erkundigt sich mit leiser Stimme, wie es Ziguette heute geht.
    »Ach, die arme Ziggi!« sagt Marie in einer sehr passablen Imitation von Madame Monnard. Dann drückt sie sich an ihm vorbei, streift ihn an Schulter und Oberschenkel.
    Er geht auf sein Zimmer, setzt sich bei Kerzenlicht hin, stellt das Medizinfläschchen auf den Tisch, verschränkt die Arme, betrachtet es. Wie viele Tropfen soll er nehmen? Hat Guillotin es gesagt? Er erinnert sich, dass sein Vater gegen Ende ein solches Mittel genommen hat. Wieviel davon hat man ihm in den Mund gelöffelt? Zehn Tropfen? Zwanzig? Er beschließt einfach, dass er etwas davon nimmt. Er wird sich nicht die Mühe machen zu zählen; er ist des Zählens müde. Er wird etwas davon nehmen, feststellen, wie es ihm damit ergeht, und entsprechende Korrekturen vornehmen.
     
    Es ist spät, spät oder früh. Von etwas aufgeweckt, das sie im Schlaf gehört hat, verlässt Jeanne das Zimmer, das sie mit ihrem Großvater teilt, und schaut hinab auf Jan Block, dessen Gesicht von dem Mondlicht beleuchtet wird, das durch das schmale Bogenfenster am Ende des Flurs einfällt. Sie braucht einige Augenblicke – sie hat tief geschlafen –, um zu bemerken, dass seine Augen offen sind. Sie lächelt ihm zu, dann kniet sie sich neben ihn, damit er sie deutlicher sehen kann. Er hebt eine Hand zu ihr auf, und sie greift danach, ehe sie herabsinkt, hält sie einen Moment lang fest und legt sie dann auf seine flach keuchende Brust. Langsam schließt er die Augen, und dieses Augenschließen hat etwas so Schicksalergebenes und Endgültiges, dass sie nicht glauben kann, dass er sie jemals wieder aufschlagen wird. Sein Atem stockt einen Moment, einen langen Moment, einen Moment, der sich vielleicht zur Ewigkeit dehnen wird. Dann, mit einem kleinen Krampf in der Brust, einer Art Schluckauf, setzt er, weniger mühsam, wieder ein.
    Auf der Treppe knarrt das Holz. Ein Kopf erscheint, hebt sich aus der Dunkelheit des Treppenhauses ins Silberlicht des Flurs. Ein rasierter, nackter Kopf, Augen, die glitzern.
    »Haben Sie keine Angst«, sagt der Kopf ganz leise. »Ich bin es nur, Lecoeur.«
    »Er ist aufgewacht«, sagt sie, »aber jetzt schläft er wieder.«
    »Sie sind ein gutes Kind«, sagt Lecoeur. »Ich glaube, ich habe von Ihnen geträumt.«
    »Ist es schon morgen?« fragt sie.
    »Nein«, sagt er unsicher. »Ich glaube nicht.

7
     
    HÉLOÏS E GODAR D , Leserin, käufliche Frau,

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