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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Tochter von Wirtsleuten an der Straße von Orléans nach Paris, erst kürzlich in ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr eingetreten, aber mit ihrem langwierigen Projekt der Selbstentwürdigung längst nicht fertig, steht mit dem Sechs-Uhr-Läuten von Saint-Eustache auf, zieht sich (von den weißen Strümpfen bis zu dem grünen Band um ihren Hals) nach Gefühl an, entzündet für einen letzten, prüfenden Blick auf sich selbst ihre Kerze, bläst sie wieder aus und steigt die hölzerne Wendeltreppe hinab in die öffentliche Welt der Rue du Jour.
    Jedesmal wieder die kleine Erschütterung, die das Draußensein mit sich bringt, die kleine Verhärtung dessen, was sich in den Nachtstunden, während sie allein in ihrem Bett lag, erweicht, geöffnet hat … Sie hüllt sich in ihren Mantel, setzt die Kapuze auf, atmet die kalte Luft.
    Sie ist mit Boubon dem Korbmacher in seiner Werkstatt auf der anderen Seite des Marktes verabredet. Boubon ist Witwer und ein Mensch, der sich wie Ysbeau der Buchhändler und Thibault der Schneider – wie sie selbst – nicht ohne weiteres in die Nachbarschaft einfügt. Dies wird ihr achter Besuch bei ihm sein. Diejenigen, die sie besucht – es sind nicht viele –, besucht sie regelmäßig, an fest vereinbarten Tagen, zu fest vereinbarten Zeiten. Sie nimmt keine Laufkundschaft. Das ganze Gerede, sie ginge mit jedem, der ihr eine Münze unter die Nase hält, ist schlicht erlogen. Meistens muss sie auf den jeweiligen Herrn selbst zugehen, und auch dann wird nichts in eindeutigen Worten besprochen. Sie hat gelernt, sehr geschäftsmäßig vorzugehen, ohne sich je explizit zu äußern. Das, glaubt sie, macht einen Großteil dessen aus, was sie an ihr mögen: ihre Bereitschaft, ihnen niemals vorzuhalten, was sie tun, wofür sie bezahlen, was sie brauchen. Und was sie brauchen, ist nicht ganz das, woran sich die vulgäre Phantasie des Viertels erregt. Bei Boubon beispielsweise wird sie zwischen den Bündeln und Weidenruten auf seinem Knie sitzen. Er wird ihr von seinem Handwerk erzählen, über die Schmerzen in seinem Rücken und seinen Oberschenkeln klagen. Sie wird, ganz liebevolle Aufmerksamkeit, zuhören und dann ein wenig fraulichen Rat, ein wenig frauliche Ermutigung bieten. Später wird er die oberen Ränder ihrer wollenen Strümpfe betrachten und mit einem stumpfen, schwieligen Finger über die Säume streichen, während sie noch einmal nach dem Unterschied zwischen Gabionen und Schanzkörben fragt und worin genau sich der Schanzkorb vom Sappen- oder Batteriekorb unterscheidet. Nichts davon ist besonders unangenehm. Ganz bestimmt ist es erträglich, jedenfalls meistens. Dann, wenn sie sich Kleid, Unterröcke und Hemd heruntergezogen und zurechtgezupft hat, trinken sie Kaffee, den er auf dem Werkstattofen kocht, sie nimmt das Geld, das, in ein Stück Papier eingewickelt, in der Nische neben der Tür für sie bereitliegt (sie ist keines dieser Flittchen aus dem Palais Royal, die nichts tun oder sagen, ohne vorher Geld bekommen zu haben), und dann geht sie, rasch und leise, und beide sind erleichtert, dass sie es wieder für eine Woche hinter sich haben.
    Aber vor Boubon muss sie etwas essen. Man kann nicht morgens über den Markt gehen, ohne stehenzubleiben und sein Fasten zu brechen. Das verlangt schon die Luft – trotz allem die Luft. Also macht sie beim Stand von Madame Forges Halt (jener Madame Forges, die sich ihr Haar in der Farbe eines Metzgertuchs färbt), kauft sich einen kleinen, noch blutwarmen Laib und zupft im Gehen die Kruste davon ab. Zu dieser frühen Stunde bemerkt sie kaum jemand, selten wird sie beleidigt. Selbst Merda der Säufer, der mit trübem Blick auf einer Treppenstufe sitzt und eine Zwiebel isst, blickt lediglich kurz zu ihr auf. Um sich ein paar Minuten Weg zu sparen, kürzt sie durch einen der Schuppen ab, wo sie den alten Priester mit der blauen Brille mit einer jungen Fischverkäuferin um den Preis eines Kabeljaukopfs feilschen sieht. Vielleicht hätte die Mutter des Mädchens – und ganz bestimmt ihre Großmutter – einem armen Priester den Fischkopf umsonst gegeben, aber die Zeiten haben sich geändert. Vor Priestern muss man sich nicht mehr fürchten. Himmel und Hölle, Engel und Teufel – es gibt viele Leute, die sich darüber nur noch lustig machen. Und nicht bloß die Gelehrten im Café de Foy oder im Procope. Viele ganz gewöhnliche Menschen äußern sich so. Leute wie die Fischverkäuferin vielleicht. Leute wie sie selbst.
    Sie folgt dem Priester aus dem

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