Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Schuppen, verliert ihn im ersten Kundenansturm des Tages aus den Augen, geht zur Rue de la Fromagerie, überquert den Südrand des Marktes und gelangt zur Ecke der Rue aux Fers. Über den Mauern des Friedhofs – wie derzeit Tag und Nacht – die sich windenden Rauchfahnen der Feuer. Heute morgen aber gibt es noch etwas zu sehen, etwas Neues. Schwarze Buchstaben auf der Friedhofsmauer. Große, ungelenke, nicht zu ignorierende Buchstaben, die sich von der Friedhofspforte bis fast zur Rue de la Lingerie ziehen: » FETTER KÖNIG METZE KÖNIGIN NEHMT EUCH IN ACHT! BECHE GRÄBT EIN LOCH TIEF GENUG UM GANZ VERSAILLES ZU BEGRABEN! «
Mitten auf der Straße stehen gaffend und diskutierend ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die sich darüber einig zu werden suchen, was da steht. »König« und »Königin«, »Metze« und »Versailles« kennen sie. Den Rest verstehen sie nicht recht. Sie könnte es ihnen natürlich sagen, aber von ihr, einer Frau, dieser Frau, würden sie es nicht wissen wollen.
Sie zerstreuen sich (immer noch streitend), und sie will selbst gerade gehen (sie möchte Boubon nicht verunsichern; er wird unsicher genug sein), als sie aus der Rue de la Lingerie den jungen Ingenieur kommen sieht, denjenigen, der sich im Nebel bei dem Namen nannte, der jetzt an die Wand geschmiert ist. Denjenigen, der sie im Gesicht berührt hat. Er sieht sie und eine Sekunde später die schwarzen Buchstaben, liest, erstarrt sichtlich, tritt dann mit gerötetem Gesicht auf sie zu und sagt: »Ich weiß davon nichts.«
Sie nickt, bricht dann ein Stück von ihrem Brot ab und hält es ihm hin. Er nimmt es, entreißt es ihr beinahe, steckt es rasch in eine seiner Manteltaschen und eilt davon.
8
AL S E R MI T ARMAND allein ist – beide haben sich, ein Dach aus Knochen über dem Kopf, knapp hinter einem der Eingangsbögen des südlichen Beinhauses voreinander aufgepflanzt –, spreizt der Organist die Finger, um zu zeigen, dass sie nicht den kleinsten Farbfleck aufweisen.
»Fleur oder Renard«, sagt er. »Unter Umständen auch de Bergerac. Übereifer. Ich werde mit ihnen reden. Aber ich finde, Sie sollten sich geschmeichelt fühlen.«
» Geschmeichelt ?«
»Sie müssen einen ziemlichen Eindruck auf sie gemacht haben. Ich kann Ihnen versichern, über mich haben sie nie ein Wort geschrieben, dabei kenne ich sie seit dem Hospital.«
»Sie waren Findelkinder?«
»Waren und sind.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
»Nein. Sie haben es schlicht vorgezogen, sie nicht zu mögen. Verachtung für sie zu empfinden.«
»Aber ich muss hier arbeiten! Bedeutet ihnen das denn gar nichts?«
»Wer soll denn da eine Verbindung herstellen? Sie haben Ihren nom de guerre doch wohl niemandem genannt?«
»Nein. Natürlich nicht. Nein.«
»Nein?«
»Nein!«
»Also?«
»Ich werde nicht … Ich habe nicht …« Der Ingenieur stockt und blickt sich dann um, als würde er zwischen den Ehrenmalen, dem steinernen Zierat entdecken, was er nicht wird oder nicht hat. Offensichtlich hätte er mehr von Dr. Guillotins Sirup einnehmen sollen. Eine weitere schlaflose Nacht hat ihn benommen gemacht, seine Gedanken sind durch Flecken geistigen Ödlandes voneinander getrennt. Vernunft, Zusammenhang, sie erscheinen ihm plötzlich wie begrenzte Vermögenswerte, die er heute morgen, heute abend, nächste Woche vielleicht jäh aufgezehrt haben wird. Und dann diese eigenartige, erstaunliche Begegnung mit der Österreicherin! Hat sie auf ihn gewartet? Dort gewartet, um ihm ein Stück Brot zu geben? Warum sollte sie das tun?
»Sie«, sagt Armand, der vielleicht schon eine ganze Weile spricht, »verfolgen eine Politik der nicht gezogenen Schlussfolgerungen. Sie ist leider sehr verbreitet.«
»Was?«
»Sie sehen, wie die Dinge liegen. Sie haben viel gelesen, Sie haben sich Gedanken gemacht, und dennoch weigern Sie sich, die naheliegenden Schlussfolgerungen zu ziehen.«
»Und die wären?«
»Das, was Männer von sehr viel geringeren Fähigkeiten vollkommen verstanden haben. Männer wie Fleur und Renard und de Bergerac.«
»Dann besteht meine Schwierigkeit vielleicht darin, dass ich die Namen meiner Eltern kenne.«
»Gekränkt hat Sie lediglich, dass die Farbe auf der Mauer Ihr berufliches Ansehen schmälern könnte. Sie sind vollkommen selbstverliebt. Sie halten sich für einen Menschen von erhabenen Gedanken, von liberalem Empfinden, dabei ist Ihr einzig wahres Ideal nur Ihr eigener Ehrgeiz.«
»Haben Sie Ihren aufgegeben? Die Orgel von
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