Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
graben, einzusammeln und aufzustapeln scheint das nicht zu beeinträchtigen. Lecoeur steht gefährlich nahe am Rand der Grube. Er scheint immer wieder einzuschlafen. Die Ärzte treffen ein. Guillotin nimmt neben Jean-Baptiste Aufstellung, sieht eine Zeitlang der Arbeit zu und sagt dann: »Haben Sie gesehen, was auf der Mauer steht?«
Jean-Baptiste nickt.
»Es sind Kräfte am Werk«, sagt Guillotin, »die unsere Herren auf eigene Gefahr ignorieren.«
Jean-Baptiste sieht ihn an, die sanften braunen Augen in dem breiten, roten Gesicht. Gehört Guillotin der Partei der Zukunft an? Weiß er, neben Renard und Fleur, de Bergerac und Armand, welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind? Einen Moment lang hält jeder den Blick des anderen fest, bis das Geräusch eines Spatens, der auf Holz trifft und es splittern lässt, beider Aufmerksamkeit wieder auf die Grube lenkt.
Der Ingenieur geht in die Hocke. »Ein Sarg?« ruft er. Der Bergmann blickt auf und nimmt zur Antwort, als Bejahung, die Pfeife aus dem Mund.
Sie graben ihn aus, stellen ihn in die Beuteltasche, hieven ihn hoch, stellen ihn auf den Boden.
»Ich denke, wir müssen ihn öffnen«, sagt Jean-Baptiste leise, wie zu sich selbst. Er sieht den ihm Nächststehenden an, Guido Brun oder wenn nicht Brun, dann der, der Brun sehr ähnlich sieht. Soundso Agast. Englebert Agast? Der Mann treibt die Spatenkante unter den Sargdeckel, hebelt zuerst leicht, dann kräftiger, bis das Holz mit einem leisen Knall nachgibt und der Großteil des Sarges augenblicklich zerfällt. Darin liegt ein Skelett, die Überreste eines Menschen, die Gebeine durch ledrige Sehnenstücke miteinander verbunden. Grobe schwarze Haarsträhnen wie schwarzes Gras sprießen seitlich aus dem Schädel. Mehrere große braune Zähne sind zu sehen.
Lecoeur, plötzlich wach und sehr nüchtern, bekreuzigt sich, wie auch mehrere von den Männern.
»Um nur die Knochen zurückzubehalten«, sagt Dr. Thouret, »um sie voneinander zu trennen und in den Zustand zu bringen, den man haben möchte, wird man sie kochen müssen.«
»Den Leichnam kochen?« fragt Jean-Baptiste.
»Das ist ein völlig normales Verfahren«, sagt Guillotin besänftigend. »Daran ist nichts Unanständiges. Sie sollten mit dem Küster sprechen. Diese Herren haben ihre Fertigkeiten.«
Der nächste Sarg, den sie nach oben bringen, enthält nur ein Durcheinander sauberer Knochen, so dass er, wenn man ihn anhöbe und schüttelte, wie ein Kinderspielzeug rasseln würde. Der nächste ist bis auf ein wenig Staub leer.
»Zumindest einer«, sagt Guillotin mit einem Blick in die Runde, »ist entkommen. Es besteht also Hoffnung für uns alle.«
Vermutlich zielt die Bemerkung darauf ab, die Stimmung aufzulockern, doch die Männer sehen ihn steinern an, und nur Lecoeur ermannt sich, gute Manieren zu zeigen, und bringt zur Antwort ein Lächeln zustande.
Ein neues System, ein neuer Ablauf ergibt sich. Sargholz wird auf dem Feuer verbrannt, wo sich für kurze Zeit seltsam gefärbte Flammen zeigen. Die noch von Bändern und Sehnen zusammengehaltenen Leichname werden im Beinhaus abgelegt, wo Manetti sie vom Nachmittag an mit Hilfe eines der Bergleute auf einen Handkarren lädt und zu der Stelle bringt, wo er sein Kochgefäß aufgestellt hat, einen Kupferzuber, der hundert Jahre lang dazu verwendet wurde zu beenden, was die Erde von Les Innocents begonnen hatte, und nun aus seinem langen Ruhestand in einer Ecke des Friedhofs hervorgezerrt worden ist.
Bei den Männern in der Grube und bei den Männern oben, denen die Aufgabe zufällt, die Särge zu öffnen, stellt sich zunächst eine spürbare Spannung ein, und alle wappnen sich anscheinend gegen irgendein Grauen, irgend etwas jäh zutage Tretendes, das sie aus seiner Kiste betrachten könnte. Zusammen mit der Schnapsflasche geht der Tabakbehälter herum. Zum Glück ist genug da, um sie bei der Stange zu halten. Und am Ende des Tages, während bei Feuerschein der letzte Sarg herausgehoben wird, erscheint das alles seltsamerweise erträglich, als wäre die Arbeit, wie auch immer sie im einzelnen aussah, am Ende doch bloß Arbeit. Etwas, in das man sich für eine mögliche Belohnung hineingekniet hat. Etwas, was man getan hat, weil die menschliche Ruhelosigkeit für irgendeinen Zweck eingespannt werden muss, wenn sie sich nicht von sich selbst nähren soll.
Er isst mit den Monnards zu Abend. Er kann ihnen nicht ständig aus dem Weg gehen. Er sitzt bei ihnen – bei Madame und Monsieur – und kaut
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