Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
bissenweise Fleisch und braune Bohnen. Das kleine Feuer brennt lebhafter als sonst: Jean-Baptiste hat dafür gesorgt, dass ihnen etwas von seinem reichlichen Holzvorrat auf dem Friedhof geliefert wird. Die Flammen kräuseln sich in der polierten Hüfte des Pianofortes. Ziguettes Abwesenheit wird nicht weiter kommentiert, obwohl ihre Mutter ab und zu auf den unbesetzten Stuhl, das unbenutzte Geschirr auf dem Tisch schaut.
Sie haben, während das Gespräch immer wieder stockte, über das Wetter, die Vorzüge des Fleisches und den steigenden Bohnenpreis gesprochen und alle Themen erschöpft, und nun widmen sie sich wieder ihren eigenen Gedanken, dem unaufhörlichen Gekaue, als Madame sich räuspert und fragt: »Stimmt es, Monsieur, was Marie uns von der skandalösen Sache erzählt, die an der Friedhofsmauer steht?«
»Marie, Madame? Ich wusste gar nicht, dass sie lesen kann.«
»Sie könnte nicht einmal ihren eigenen Namen lesen, Monsieur«, sagt Monsieur Monnard, »aber sie hat Ohren. Sie kann besser hören als eine Eule.«
Sofort steht dem Ingenieur – ungewollt und in aller Deutlichkeit – ein Bild von Marie mit büscheligen Ohren, wie sie bei Mondlicht auf einem Ast sitzt, vor Augen.
»Man hat es ihr gesagt, Monsieur«, erklärt Madame. »Sie hat es erfahren.«
»Und es ist nicht die einzige Inschrift dieser Art«, sagt Monsieur Monnard. »Ich hatte heute nachmittag Monsieur Gobel in der Werkstatt, der mich darüber informiert hat, dass er auf einer Mauer gegenüber der Börse etwas ganz Ähnliches gesehen hat.«
»Vielleicht gibt es ja Hunderte davon«, sagt Madame. »Könnte es Hunderte geben?«
»Diese andere«, fragt Jean-Baptiste, die Gabel in der Luft, »die an der Börse. Bedient sie sich desselben Namens?«
»Bêche«, sagt Monsieur Monnard und spießt ein letztes Stück Rindfleisch auf seinem Teller auf. »Und alle möglichen Drohungen gegen den König und seine Minister. Meine Frau hat das sehr mitgenommen, Monsieur.«
»Ich fürchte«, sagt Madame Monnard und sieht auf einmal sehr mitgenommen aus, »dass wir in unseren Betten ermordet werden. Dass man uns die Kehle aufschlitzt.«
»Bestimmt sind das alles nur leere Worte«, sagt Jean-Baptiste. »Nichts als … eine Art Spiel.«
»Ein Spiel ? Das sagen Sie nur so, Monsieur. Ja, Sie möchten mich beruhigen. Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Aber ich werde heute nacht davon träumen, wie dieser Bêche durch unser Schlafzimmerfenster einsteigt. Würden Sie kommen, Monsieur, wenn wir Sie riefen? Haben Sie ein Schwert, Monsieur?«
»Nein, Madame.«
»Ich dachte, Sie hätten eins.«
»Ich bin Ingenieur, Madame. Ich habe ein Messinglineal.«
»Das würde ja vielleicht schon reichen«, sagt Madame nachdenklich. »Wenn es ein langes ist.«
Marie kommt herein, um die Teller abzuräumen. Jegliches Gespräch verstummt. Die Teller werden eingesammelt und gestapelt. Sie hat starke rote Hände wie ein Mann, ein Arbeiter. Und dazu ihr schwarzes Haar! Dieser flaumige Damenbart, der keineswegs ein Makel ist. Jean-Baptiste kommt es so vor, als besäße sie eine Kraft, mit der sich niemand sonst im Zimmer messen kann, als steckten ihre Wurzeln in einem fetteren, schwärzeren Boden, in den er und die anderen nicht hinabreichen.
Als sie hinausgeht und mit dem Fuß die Tür zuzieht, wechseln Madame und Monsieur einen Blick und richten die Augen dann auf ihren Mieter, als würde nun irgendeine Erklärung von ihm verlangt – eine Erklärung für jedes Übel und beunruhigende Ereignis, zu dem es seit seinem Eintreffen gekommen ist.
»Ich wollte Sie fragen«, sagt Jean-Baptiste, »das heißt, ich wollte mich erkundigen, wie es Ihrer Tocher geht, Madame.«
»Ziggi? Ach, Kinder zu haben ist sehr aufreibend, Monsieur. Sie scheint vollkommen aufgelöst. Sie sollten nach ihr sehen, Monsieur. Mein Mann und ich sind mit unserem Latein am Ende. Seit Sie – und ich bitte, das zu entschuldigen –, seit Sie mit Ihrer Arbeit begonnen haben, ist sie untröstlich. Es ist, als spürte sie die Schaufeln auf ihrer eigenen Haut.«
»Das tut mir leid«, sagt Jean-Baptiste. »Wirklich. Aber die Arbeit muss getan werden. Ich bemühe mich, Madame … wir bemühen uns, das zu tun, was gut ist, was …«
Das Feuer knackt; ein Funken stiebt heraus. Jean-Baptiste steht rasch auf und tritt ihn mit der Stiefelspitze aus.
»Das Holz ist grün«, knurrt Monsieur Monnard und wirft einen finsteren Blick auf das Feuer, als wäre das grüne Holz das grüne Herz alles dessen, was ihn
Weitere Kostenlose Bücher