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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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stößt es auf, steckt den Kopf hinaus. Es ist nichts zu sehen, jedenfalls nicht deutlich. Vielleicht brennt das Feuer beim Predigerkreuz heller, als es zu dieser Stunde der Fall sein sollte, aber sonst … Er beugt sich weiter hinaus, bis fast zu Taille, strengt seine Augen an. Jenseits des roten Feuerscheins huschen Schatten. Dann kommt es erneut, jenes wilde Lachen, steigt über die Mauer auf, erschallt so deutlich wie die Glocke eines Hausierers in der kalten, stinkenden Stille der Nacht.

9
     
    SIEBE N UH R MORGEN S . Frost auf den Ziegeln des Beinhauses, eine weiße, zwischen zwei Häusern in der Rue Saint-Denis eingeklemmte Sonne. »Ich habe Frauen gehört«, sagt er zu Lecoeur. »Zumindest eine habe ich gehört.«
    »Hmm«, sagt Lecoeur, der heute die schwere, gestrickte Weste trägt. »Ja. Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Herr und Meister einen direkten Blick auf uns hat und uns nach Belieben nachspionieren kann.«
    »Ich habe nicht spioniert«, sagt Jean-Baptiste. »Ich habe nicht die Angewohnheit zu spionieren.«
    »Ach nein? Welches Wort würdest du denn vorziehen? Wie sollen wir es nennen, wenn du von deinem Ausguck aus zu uns herunterspähst?«
    »Was ich vorziehen würde? Dich morgens nicht betrunken anzutreffen.«
    »Betrunken? Ah, gut. Ja. Jetzt diffamierst du mich auch noch. Und wenn ich nun … wenn ich nun wäre, was du sagst? Hätte ich denn keine Rechtfertigung dafür? Du entfliehst jeden Abend von hier, während ich dableiben muss, umgeben von Gruben, von Gebeinen. Es ist unerträglich!«
    »Wäre dir Valenciennes lieber?«
    »Dort habe ich die Brücken hinter mir abgebrochen, Monsieur. Und zwar zu deinem Nutzen. Damit du in Versailles die Schwäne füttern und mit vornehmen Leuten verkehren kannst!«
    »Ich füttere keine Schwäne! Und ich gehe niemals nach Versailles. Ich gehe zu diesem Haus da. Dahin und nicht weiter. Ich verkehre mit Menschen, aus denen ich nicht schlau werde.«
    Ihre Stimmen sind laut geworden, fast brüllen sie. Beide sind sich undeutlich bewusst, dass man zu ihnen hersieht, ihnen zuhört.
    »Aber es tut mir leid«, sagt Jean-Baptiste, der sich zu seinem Entsetzen plötzlich kindischen Tränen nahe sieht. »Es tut mir leid, dass du es … unerträglich findest. Du hast jederzeit nach eigenem Gutdünken kommen und gehen können. Du weißt, im Haus des Küsters gibt es Schlüssel für sämtliche Türen. Wenn es dir recht wäre, könntest du heute morgen gehen. Mach einen Gang durch die Stadt. Ich komme hier auch so zurecht. Und … und du solltest zum Abendessen ins Haus kommen. Ich wollte dich schon früher einladen. Mein Vermieter würde sich bestimmt freuen, deine Bekanntschaft zu machen. Komm heute abend, wenn du möchtest.«
    »Heute abend?« Lecoeur tritt vor, murmelt dabei etwas von Vergebung und vom lieblichen Balsam der Freundschaft. Er versucht, Jean-Baptiste an sich zu ziehen, doch dieser verspürt kein Verlangen danach, von Lecoeur in die Arme geschlossen zu werden, und tritt zurück, so dass es einige Augenblicke lang, während der eine vorrückt und der andere ihm auszuweichen sucht, so aussieht, als würden sie miteinander tanzen.
    »Du hast mir noch nicht von den Frauen erzählt«, sagt Jean-Baptiste, und beide bleiben am Rand der zweiten Grube stehen.
    »Den Frauen? Ein halbes Dutzend der dreisteren hiesigen Dirnen. Sie sind mit einer Leiter auf die Mauer geklettert. Unsere Männer haben die Mittel für ihren Abstieg bereitgestellt. Ich habe nicht eingegriffen. Demzufolge wirst du ihre Moral heute morgen stark verbessert finden. Friedhöfe waren natürlich einmal berüchtigt für solche Frauen.«
    »Hast du sie gesehen?«
    »Bloß die Umrisse. Von weiter weg.«
    »Und keine … keine erschien dir irgendwie ungewöhnlich?«
    »Ich würde sagen, sie waren alle von ein und demselben Typ. Eifrig. Wenig denkwürdig.«
    »Hat Jeanne sie auch gesehen?«
    »Wir haben sie zusammen gesehen. Das Schauspiel schien sie ziemlich zu animieren.«
    »Vielleicht hat sie sie ja gekannt.«
    »Ihrem Ruf nach, meinst du?«
    »Ja.«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    »Das kann nicht jede Nacht so gehen«, sagt Jean-Baptiste. »Es muss irgendeine … Regelung getroffen werden. Sie könnten in einer bestimmten Nacht kommen. Zum Beispiel samstags. Wir könnten sie durch die Pforte einlassen. Sie würden keine Leitern brauchen.«
    »Aber wie sollen wir diese Regelung bekanntmachen? Per Ausrufer?«
    »Monsieur Saint-Méard. Er wird mindestens eine von ihnen kennen. Eine

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