Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
reicht.«
»Das wird eine ganz neue Rolle für uns«, sagt Lecoeur.
»Rolle?«
»Es gibt einen Namen dafür, nicht wahr? Für Leute, die solche Dinge regeln.«
Mit einem kurzen Händedruck gehen sie auseinander – Lecoeur in Richtung Latrinen, Jean-Baptiste zum Haus des Küsters, wo Jeanne, Lisa Saget und die kleine Natalie am Küchentisch ihrer Arbeit nachgehen. Sie werden durchs Fenster seine eigenartige Begegnung mit Lecoeur beobachtet haben, sagen aber kein Wort. Er brennt darauf, Jeanne nach den Frauen zu fragen, nach den Dirnen, ihrer Größe, ihrer Haarfarbe, dabei hat er in seiner Phantasie schon ein Bild von Héloïse erprobt, wie sie eine an die Friedhofsmauer gelehnte Leiter hinaufsteigt, und es als ebenso unwahrscheinlich verworfen wie die Vorstellung, sie schlüge ihren Mantel auseinander und flöge über die Mauer.
Am Küchenfeuer stehen jetzt zwei Stühle. Der des Küsters ist nicht besetzt; auf dem anderen sitzt Jan Block, eine Decke um die hochgezogenen Schultern, die Augen eingesunken und umschattet, doch eindeutig auf dem Weg der Genesung. Jean-Baptiste beglückwünscht ihn. Block nickt, schaut kurz hinüber zu Jeanne, dann wieder auf die hüpfenden Flammen.
»Gut«, sagt der Ingenieur zu sich selbst, zur Luft, zu wem auch immer, der ihm zuhören will. »Dann machen wir jetzt weiter.«
An diesem Abend geht Jean-Baptiste – obwohl es eigentlich das letzte ist, was er will – mit Lecoeur in die Rue de la Lingerie und stellt ihn den Monnards vor. Auf dem Tisch wird ein weiteres Gedeck aufgelegt. Lecoeur sitzt Madame gegenüber. Jean-Baptiste hat ihn auf dem Weg hierher ermahnt, nicht von der Arbeit auf dem Friedhof zu sprechen: Die Monnards seien Menschen, die besonders empfindlich auf Veränderung, auf Unruhe reagierten. Lecoeur hat versprochen, es nicht zu tun, und er hält Wort, redet jedoch über alles andere, fließend und unaufhörlich, als hätten sich über Wochen Worte in ihm aufgestaut und es brauchte nur eine gesittete Umgebung, das Vorhandensein eines Pianofortes, damit sie ihm aus der Kehle fliegen.
Monsieur Monnard jedoch scheint aufrichtig interessiert an den Bergwerken von Valenciennes, an den technischen Einzelheiten von Pumpen und Ausrüstung, während Madame von Lecoeurs Schilderung des Hinscheidens seiner Mutter berührt scheint, die vor einigen Jahren an der Wassersucht gestorben und vor ihrem Tod von Lecoeur und seiner Schwester Violette gepflegt worden ist.
»Dann verstehen Sie und Monsieur Baratte einander ja vollkommen«, sagt Madame. »Denn Monsieur Baratte hat das Unglück gehabt, seinen Vater in einem Alter zu verlieren, in dem er hätte hoffen dürfen, noch einen zu haben. Und wer weiß schon, welcher Verlust der größere ist, der des Vaters oder der der Mutter? Und Sie sind beide sehr empfindsame Naturen, nicht wahr?«
»Ich glaube schon, Madame«, sagt Lecoeur. »Unsere Freundschaft ruht auf den beiden Pfeilern Empfindsamkeit und Philosophie. Wir kennen die Gedanken des jeweils anderen, Madame.«
»Ich würde sagen, so ist auch mein Verhältnis zu meiner Tochter, Monsieur. Genau wie Sie es ausdrücken.«
»Sie haben eine Tochter , Madame? Ich hatte angenommen, Sie wären die Tochter des Hauses.« Er vollführt einen kleinen Schnörkel mit der Hand. Der Ärmelaufschlag seines Rocks trifft den Rand seines Glases. Marie wird gerufen. Sie kniet sich hin und sammelt die Glasscherben in ihrer Schürze.
Nach dem Essen steigen die Freunde in Jean-Baptistes Zimmer hinauf. Jean-Baptiste entzündet ein Feuer. Er bietet Lecoeur den Stuhl an, setzt sich selbst aufs Bett. Er ist froh, dass Lecoeur sehen kann, wie einfach seine Lebensumstände sind und dass dieses Zimmer seiner Größe und Ausstattung nach demjenigen, in dem Lecoeur im Haus des Küsters schläft, nicht unähnlich ist. Er spielt auf diesen Umstand an. Die Anspielung bleibt unbemerkt.
»Ich bin nicht mit leeren Händen gekommen«, sagt Lecoeur, greift unter sein Hemd und zieht ein zerknittertes Päckchen hervor. Er legt es zwischen ihnen auf den Tisch, streicht es glatt. Das Päckchen ist mit einem roten Band verschnürt. Er zupft es auseinander, nimmt das zuoberst liegende Blatt Papier weg. Darunter kommt so etwas wie ein Bild zum Vorschein, ein kompliziertes, mit verblasster Tinte gezeichnetes und vielfach annotiertes Diagramm. Er bedenkt es mit einem Lächeln und schiebt es Jean-Baptiste zu, der es in die Hand nimmt, ansieht und nickt. »Valenciana«, sagt er.
»Ganz recht, Valenciana«, sagt
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