Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Lecoeur.
»Unsere alten Pläne. Du hast sie alle aufbewahrt.«
»Hast du etwa gedacht, ich würde sie ins Feuer werfen? Nun, da wir älter sind, uns besser damit auskennen, wie es in der Welt zugeht, sollten wir uns diese Pläne wieder vornehmen. Sie destillieren .«
»Ach ja?«
»Sieh doch!« sagt Lecooeur, nimmt das Messinglineal vom Tisch, hält es waagerecht und hebt es nach Art eines Priesters, der die Eucharistie feiert, über seinen Kopf. »Valenciana steigt aus der Asche auf!«
Anderthalb Stunden lang – bis die Kerze soweit heruntergebrannt ist, dass sie bald miteinander im Dunkeln sitzen müssen – schieben sie einander Blätter und Zettel zu, auf denen schon die Handschrift – manchmal die von Jean-Baptiste, manchmal die von Lecoeur – die Begeisterung jener Winterabende in den Bergwerken vor sechs Jahren heraufbeschwört. Es gibt Überschriften wie »Über die Erziehung des weiblichen Geschlechts«, »Pläne für ein modernes Abwassersystem«, »Sparta und Valenciana«, »Über die Verbrennung«, »Die ideale Ehefrau«, »Eine Untersuchung der Vernunftreligion«, »Einige Kleidungsstücke für Frauen«, »Die Reinheit der Formen«, »Ein Beförderungsmittel für Frauen«, »Pläne für eine Brücke«.
»Und sieh mal«, sagt Lecoeur, »wir hatten sogar ein kurzes Papier über die Beseitigung von Leichen.«
»Das hatte ich vergessen«, sagt Jean-Baptiste. »Ich hatte vieles davon vergessen.«
»Genau das ist der Grund, warum ich es mitgebracht habe«, sagt Lecoeur. »Die ersten Ambitionen sind die besten. Später sind wir weniger tapfer. Meinst du nicht auch?«
»Oder wir verändern uns einfach.«
»Wir werden älter, meinst du?«
»Älter. Anders.«
»Aber heute abend ist alles, wie es damals war. Verstand spricht zu Verstand, Herz spricht zu Herz. Der Quell der Jugend in unserer Brust … er sprudelt! Weißt du, was einen Menschen vom anderen unterscheidet? Seine Bereitschaft, unbefleckt zu bleiben, während der andere aus einer Art Trägheit heraus zulässt, dass sich sein Mund mit Erde füllt. Mit Graberde.«
Jean-Baptiste deutet mit dem Kinn auf die Kerze. »Ich begleite dich nach unten«, sagt er.
»Könnte ich nicht hierbleiben?« fragt Lecoeur.
»Ich glaube«, sagt Jean-Baptiste und steht auf, »wir hätten es nicht bequem.«
An der Haustür gehen sie auseinander. Es kommt zu einem kurzen Händedruck. Lecoeur, der wie der Schatten seiner selbst auf der Straße steht, ein Geist, von dem die Stunde verlangt, dass er in die Unterwelt zurückkehrt, verweilt noch, seufzt und wendet sich schließlich widerstrebend ab, was traurig anzuschauen ist.
Jean-Baptiste schließt die Tür, versperrt sie und steht dann eine Weile im Flur, im Dunkel zwischen Haus- und Küchentür. Er hat seine Pflicht getan, oder etwa nicht? Er hat dem anderen kameradschaftlich die Hand gereicht, hat eine Vergangenheit, einen Enthusiasmus wiederaufleben lassen, die noch ferner scheinen, als er hätte vorhersehen können. Was konnte man mehr von ihm erwarten? Doch was ihm, während er sich zum Fuß der Treppe tastet, in der Brust sitzt, ist unverkennbar ein Gefühl des Verrats. Er geht dem nicht weiter nach. Er ergibt sich der Dunkelheit um ihn herum und steigt vorsichtig hinauf.
Zur Mittagszeit des folgenden Tages kann die zweite Grube, geleert und wieder gefüllt, von der Liste gestrichen werden, und obwohl es an einem Ort wie Les Innocents nicht einfach ist, die Moral zu messen, erscheint es Jean-Baptiste dennoch so, als hätten die Männer etwas wiedergewonnen, als wäre ihnen in Gesellschaft der lachenden Frauen neue Kraft eingeflößt worden. Westlich der zweiten Grube wird die dritte markiert, und um ein Uhr nachmittags, in einem stetigen Geniesel, das bald in stetigen Regen übergeht, brechen die Männer (von denen einige den Kniff heraushaben, ihre Pfeife mit nach unten gedrehtem Kopf zu rauchen) den Boden auf.
Die Ärzte sind wieder anwesend. Zum Schutz gegen den Regen spannen sie robuste Schirme auf. Sie haben es recht gemütlich, wie zwei Gentlemen an einem Teich, die darauf hoffen, einen Hecht fürs Abendessen zu angeln, obwohl sich auf dem Friedhof in Wirklichkeit wenig ergeben hat, was ihr berufliches Interesse weckte. Sie haben in den Knochen gestochert, haben ab und zu eine Stunde mit dem Küster und seinem Kochgefäß verbracht, haben gezeichnet und gemessen und neugierig in die Beinhäuser hineingespäht, doch das alles hätten sie auch auf jedem beliebigen alten Friedhof tun können –
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