Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
würde lieber versuchen, sie so zu konservieren, wie sie ist. Wir könnten eine Glasvitrine für sie bauen. Sie an der Akademie präsentieren.«
»Wird sie denn erhalten bleiben«, fragt Jean-Baptiste, »jetzt, wo sie wieder an der Luft ist?«
Der Arzt zuckt die Achseln, dann blickt er an Jean-Baptistes Schulter vorbei und lächelt. »Wollten Sie sie auch sehen?« fragt er.
Die anderen drehen sich um. Am Eingang der Werkstatt steht Jeanne. Mit Ausnahme von Dr. Guillotin wirken die anderen kurzeitig verlegen, als hätte man sie im Überschwang irgendeiner unschicklichen Begeisterung ertappt.
»Ich habe mich nur gefragt, ob Sie irgend etwas wünschen«, sagt sie. Sie tritt weder ein, noch nähert sie sich dem Sarg. Nach einigen Augenblicken setzten Guillotin und Lecoeur sorgfältig den Deckel wieder auf.
10
DI E NEU E GRUB E bietet keine weiteren Lokalschönheiten. Während sie in ihre Tiefen vordringen (sie ist die bislang tiefste: zweiundzwanzig Meter bei der letzten Messung mit dem Lot), sind die Särge meist zerbrochen, ihre Insassen mit ihren Nachbarn durcheinandergeworfen, vermengt. Die ganze Wochenmitte hindurch schuften sie bis acht oder neun Uhr abends, graben und hieven und stapeln beim Licht von Pechfackeln, Lampen und Feuern. Dann, am Samstag – in der verblassenden Glut des westlichen Himmels schimmert das heitere Licht irgendeines Planeten – werden sie damit fertig. Die Männer unten blicken hinauf; die oben spähen hinunter. Der Ingenieur gibt den Befehl, die Arbeit einzustellen. Er bittet Lecoeur, die Männer am Predigerkreuz zu versammeln, dann geht er mit Lecoeur die Wendeltreppe hinauf und gibt seine Entscheidung bekannt, dass jedesmal, wenn eine Grube geleert, jedesmal, wenn eine Grube fertiggestellt ist, jeder Mann eine Prämie von dreißig Sous erhalten wird. Die Berechnungen hat er in der vorherigen Nacht angestellt, hat Zahlen zwischen sorgfältig abgelöschten Kolumnen hin- und hergeschoben, bis er das Geld, das er braucht, gefunden hatte.
»Und noch etwas«, sagt er, um das passende Register bemüht, eine Stimme, die väterliche Nachsicht mit etwas Schroffem und Weltläufigem verbindet. »Morgen werden die Friedhofspforten offen sein, und ihr dürft den Friedhof bis Sonnenuntergang verlassen; dann werden die Pforten wieder verschlossen. Was den heutigen Abend angeht, so kann es sein, dass die Pforten eine Stunde lang offen sind, falls Freunde von euch uns besuchen möchten.«
Lecoeur klatscht. Vielleicht möchte er, dass die Männer sich seiner Dankesbekundung anschließen, aber bis auf etwas Gemurmel und Füßescharren ist nichts zu hören. Haben sie ihn verstanden? Er sieht Lecoeur an, doch bevor er ihn um Rat fragen kann, ihn vielleicht bitten kann, das Ganze in flämisches Geknurre zu übersetzen, schlägt Lisa Saget gegen den Topf und die Männer gehen zu ihren Zelten, um Löffel und Blechnäpfe zu holen.
»Es ist sehr gut, sie hinauszulassen«, sagt Lecoeur, sobald sie die Treppe hinuntergestiegen sind. »Es hat sie aufgemuntert.«
»Meinst du?«
»Ich habe es deutlich gesehen.«
Jean-Baptiste nickt. Was er deutlich vor sich gesehen hat, ist er selbst am Montagmorgen ohne einen einzigen Bergmann oder mit einem zerlumpten halben Dutzend, sinnlos betrunken und bis aufs Hemd ausgeraubt. Sie mögen so robust sein wie Janitscharen, diese Männer, aber gegen die Mundfertigkeit, die flinken Hände der Einheimischen kommen sie nicht an. Doch wenn er sie weiter einsperrt, wird es zur Revolte kommen, einer Revolte, die sich nicht mit Tonpfeifen und Tabak ersticken lässt. In Valenciennes – allerdings hat er es nicht mit eigenen Augen gesehen – gab es Geschichten von den Männern, die Amok gelaufen sind, Maschinen zerstört, Werksgebäude angesteckt, ja sogar die Wohnungen der Vorarbeiter belagert haben, bis die Miliz eingetroffen ist. Die meisten kommen aus dem Norden, wie er selbst. Nicht leicht erregbar, aber wenn es sie erst einmal gepackt hat …
Eine Stunde nachdem die Männer gegessen haben, kommen die Frauen, vorsichtig zunächst; die kühnste späht durch die halb offene Pforte zur Rue aux Fers; dann wird die Tür weit aufgerissen, und sie kommen laut rufend, gurrend und mit den Armen winkend hereinmarschiert.
Lecoeur, Armand, Jeanne, Lisa Saget und Jean-Baptiste beobachten sie von einem breiten Streifen nächtlichen Schattens am Fuß der Westwand der Kirche aus. Sie zu zählen ist nicht einfach. Lecoeur kommt auf zwölf. Armand sagt, ihm sei eine entgangen, und
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