Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
steht auf, um Jean-Baptistes Wunde zu untersuchen, teilt vorsichtig das nachgewachsene Haar, erklärt sich selbst für recht zufrieden mit dem Zustand der Narbe.
»Sie leiden noch immer nicht an anderen Symptomen«, fragt er, »außer den Kopfschmerzen?«
»Ich …« beginnt Jean-Baptiste, dann zuckt er die Achseln. »Ich fühle mich so normal, wie Sie mich vor sich sehen. Und ich würde mich freuen, wenn wir uns endlich auf ein Honorar einigten. Für das, was Sie geleistet haben. Die Freundlichkeit, mit der Sie sich um mich gekümmert haben. Ich habe mich noch gar nicht richtig bei Ihnen bedankt.«
Mit einer Handbewegung tut der Arzt den Vorschlag ab. »Es sei denn, mein lieber Ingenieur, Sie haben es sich anders überlegt und wollen mir Ihren famosen Schädel doch vermachen?«
Als er im späten Zwielicht vom Friedhof zurückkommt, tritt ein Junge vor, dessen Schatten am Schatten der Friedhofsmauer lehnt, und stellt sich ihm in den Weg. Es ist der stumme Junge, derjenige, der ihm geholfen hat, seine Truhe zu tragen, als er bei den Monnards eingezogen ist. Er hat die Hand ausgestreckt, und einen Moment lang glaubt Jean-Baptiste, er wolle ihn um etwas bitten, er habe gelernt zu betteln, doch er hält ihm etwas hin, ein zusammengefaltetes Stück Papier. Es ist, als er in die Mitte der Straße tritt, gerade noch so hell, dass er die auf dem Zettel stehende Nachricht lesen kann. Sie ist sehr kurz. »Ich werde kommen, wenn Sie es immer noch wünschen.«
Er hat nichts zum Schreiben dabei. Zu dem Jungen sagt er: »Kannst du Zeichensprache? Kannst du dich mit Zeichen verständlich machen?«
Der Junge nickt.
»Dann geh zurück zu der Frau, die dir das gegeben hat. Richte ihr aus, sie soll morgen kommen. Um drei Uhr nachmittags. Jetzt zeig mir, wie du das machst.«
Der Junge zeigt es ihm. Für Jean-Baptiste sieht es vollkommen verständlich aus. Er gibt dem Jungen eine Münze. »Geh«, sagt er. »Finde sie noch heute abend.«
9
I N DE R ZEI T , die er braucht, um zum Haus zurück und die Treppe zu seinem Zimmer hinaufzugehen, hält er sich für den glücklichsten Menschen in Paris. Er zündet keine Kerze an – wie ins purpurne Herz einer Blume gehüllt, sitzt er im kühlen Fastdunkel auf dem Bett. Wie einfach das alles ist! Und wie schwachsinnig von uns, dass wir uns das Leben so zur Plage machen! Als wollten wir geradezu unglücklich sein oder befürchteten, dass die Erfüllung unserer Wünsche uns zerspringen ließe! Ganz kurz – der alte Reflex – will er untersuchen, was er empfindet, woraus es sich zusammensetzt, um zu erfahren, was für eine Maschine sie ist, diese neue Freude; dann legt er sich aufs Bett, lacht leise und schläft beinahe ein, ehe er plötzlich kerzengerade dasitzt und ihm alles wieder ungewiss erscheint. Was genau hat sie mit ihrer Nachricht gemeint? War etwas Zweideutiges daran? Kann es sein, dass er sie missverstanden hat, er, für den Worte so unzuverlässige Diener geworden sind? Und dann auch noch einen stummen Jungen mit einer Antwort losschicken, wo er ihn doch mit etwas Nüchternheit, mit etwas Geduld ins Haus hätte mitnehmen und etwas Klares, Unmissverständliches schreiben können!
Er steht auf, durchmisst das kleine Zimmer, bleibt an der Tür stehen, blickt ins Zimmer – wo inzwischen sämtliche Gegenstände nur noch die undeutlichsten Konturen von sich zeigen – und macht sich klar, dass sie beide, wenn sie denn morgen wirklich kommt (und wieso drei Uhr?) sich unmöglich hier aufhalten, hier wohnen, auch nur eine einzige Nacht hier zusammenleben können.
Er stiehlt sich die Treppe hinunter, vorbei an der Tür zum Esszimmer, zündet auf dem Tisch im Flur eine Kerze an, kehrt – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – in die oberste Etage zurück. Er steht vor Ziguettes Zimmer, ertappt sich dabei, dass er an der Tür lauscht, tadelt sich im Flüsterton dafür, öffnet die Tür und geht hinein.
Er ist seit dem Abend nicht mehr hiergewesen, an dem er sie besucht hat, um zu sehen, wie ein Mädchen in Auflösung aussieht, und Mädchen wie Zimmer in einem Zustand fortgeschrittener Unordnung vorfand. Jetzt ist es hier durchaus ordentlich, die Raumluft zwar abgestanden und ein wenig feucht, aber dem ließe sich rasch abhelfen. Er hebt seine Kerze, registriert den bemalten Kleiderschrank, den Kamin, die Frisierkommode mit dem ovalen Spiegel (in dem seine Kerzenflamme jetzt funkelt). Ein Bett, groß genug für zwei. Riecht das Zimmer immer noch nach ihr? Er weiß es nicht;
Weitere Kostenlose Bücher