Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
gelindert wird. Andere Attacken sind nicht so schlimm und lassen sich – Guillotins Vorschlag – durch den Genuss von drei, vier Tassen starken Kaffees im Zaum halten.
Von den verlorenen Wörtern kehren einige zu ihm zurück wie Tauben zu ihrem Schlag. Mit Feder und schwarzer Tinte schreibt er sie hinten in sein Journal:
Er kann immer noch keine Seite von Buffon ganz durchlesen, kann sich nicht erinnern, wann oder warum er das Buch gekauft hat. Er fragt sich, wieviel vom Leben eines Menschen die Geschichte wiedergibt, die er sich selbst über sich selbst erzählt. Er fragt sich, wieviel von seiner eigenen Geschichte ihm entfallen ist. Fragt sich, ob das von Belang ist.
Was die Habenseite angeht, so wird er nicht mehr von Träumen gequält. Er schläft gut. Das Fläschchen mit Arznei, mit dem klebrigen lachryma papaveris , steht auf dem Kaminsims in seinem Zimmer, aber er rührt es seit dem Angriff nicht mehr an, nicht einmal in den Nächten, in denen er sich niederlegt und an die hundert Dinge denkt, die er in jener Dämmerung in der Rue Saint-Denis hätte zu ihr, zu der Österreicherin, sagen können.
Auf dem Grund des zehnten Armengrabs die Überreste von etwa dreißig bis vierzig Kindern. Es ist wirklich keine Zeit, eine genauere Zahl zu ermitteln. Guillotin und Thouret schätzen das Alter der Kinder zur Zeit ihres Hinscheidens auf zwischen vier und zehn Jahre. Manetti wird zu Rate gezogen und nickt. Eine Seuche im Waisenhaus von Plessy – 1740? Vielleicht 1741. Er könnte es nicht beschwören. Man hat die Kinder in der Grube so geschlichtet, dass der Kopf des einen neben die Füße des anderen zu liegen kam, so wie sie vielleicht auch im Waisenhaus geschlafen haben. Die Männer sind betroffen; sie paffen an ihren Pfeifen, befingern ihre Amulette. Die Ärzte sammeln einige der Schädel ein, schichten sie wie Kohlköpfe oder Rüben in einen von Jeannes Weidenkörben und bringen sie in die Werkstatt.
In den letzten Märztagen schneit es. Der Schnee klebt wie geschmolzenes Wachs an den schwarzen Mauern der Kirche, liegt harsch und glitzernd auf den gestapelten Gebeinen. Dann friert es. Das Graben ist eher ein Scharren. Ihre Werkzeuge klirren auf der Erde. Um das elfte Armengrab öffnen zu können, müssen sie die ganze Nacht ein Feuer darauf brennen lassen. Es ist das letzte Aufbäumen des Winters.
In der ganzen folgenden Woche taut der Boden auf, verwandelt sich in Matsch, in Schmiere. Wenn ein Sarg, ein Schädel herausgezogen wird, so ist das dabei entstehende Geräusch amphibisch, seltsam schlüpfrig. Jacken werden aufgeknöpft, Hüte zurückgeschoben. Selbst auf dem Friedhof – und selbst für einen, dessen Geruchssinn so verkümmert ist wie der des Ingenieurs – ist die Luft verändert und hat in unvorhersehbaren Abständen etwas entnervend Reines, das bei allen, Männern wie Frauen, Bergleuten wie ihren Herren, die Vorstellung weckt, sie befänden sich woanders, brächen vielleicht zu einem langen Spaziergang aufs Land auf, einer Wanderung zu einem von Weiden gesäumten Fluss.
Eines Morgens, als der Ingenieur gerade auf dem Friedhof erschienen ist, ruft Jeanne ihn mit vor Begeisterung leuchtendem Gesicht. Sie führt ihn zur Nordwestecke des Friedhofs, in die Nähe der Stelle, wo sie das erste Armengrab geöffnet haben.
»Sehen Sie?« sagt sie und zeigt auf einen Flecken mit kleinen gelben Blumen, deren Blätter gesprenkelten grünen Schaufeln gleichen, und nahebei wächst ein Büschel höherer Pflanzen mit tiefroten Blüten.
»Die Samen waren vergraben«, sagt sie. »Ihre Arbeit hat sie wiederbelebt.«
Er starrt sie an, die gelben, die roten Blumen. Er sagt nichts. Er ist vollkommen verwirrt.
7
E R SIEH T SI E WEDER , noch hört er sie, bis sie hinter ihm steht. Es herrscht Abenddämmerung, und er will gerade ins Haus der Monnards eintreten. Ein großer Wagen – M. Hulot et Fils, Déménageurs à la Noblesse – rattert die Straße entlang in Richtung Rue Saint-Honoré. In seiner Verblüffung starrt er sie auf eine Weise an, die, wie er glaubt, ziemlich komisch wirken muss.
»Sie wollten mit mir reden?« sagt sie.
»Das ist Wochen her«, sagt er.
»Sie wollen also nicht mehr mit mir reden?«
»Doch. Ja.«
»Ja?«
»Ja. Doch.«
»Nun gut.« Sie wartet, schaut ihm direkt in die Augen. Heute trägt sie nicht den roten Umhang, sondern ein Tuch oder einen Schal aus einem leichten Stoff, der ihr Haar bedeckt. Ihr Gesicht ist starr, die Lippen fest aufeinandergepresst.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher