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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Bücher.«
    »Bücher?«
    »Haben Sie etwa gedacht, ich könnte nicht lesen?«
    »Nein«, sagt er. »Das habe ich nicht gedacht.«
    »Ich hätte gern noch mehr Bücher. Die guten Ausgaben. Nicht die für fünfzehn Sous, die einem in den Händen auseinanderfallen, wenn man sie aufschlägt.«
    »Nein«, sagt er. »Die nicht.«
    »Und ich will ins Theater«, sagt sie. »Es ist lange her, dass ich dort gewesen bin.«
    »Ins Theater«, sagt er. »Das würde mir auch gefallen.«
    Eine Zeitlang stehen sie ruhig und friedlich beeinander. Sogar auf der Straße ist es ausnahmsweise still, kaum ein Mensch ist unterwegs. Es ist wahrscheinlich, denkt Jean-Baptiste, dass sie aus einem dieser Fenster von jemandem beobachtet werden, der weiß, wer sie beide sind. Es macht ihm überhaupt nichts aus.
    »Sind Sie das?« fragt sie und schaut schrägt über die Straße auf die Fensterläden des Kurzwarenhändlers, auf denen schwarze Farbe eine weitere von Monsieur Bêches Drohungen gegen die Mächtigen verkündet. Diese betrifft das Schicksal, das den Befehlshaber der Bastille erwartet. Sie ist vor einer Woche aufgetaucht und noch immer nicht übermalt worden.
    »Sie kennen meinen Namen«, sagt er.
    »Ich kenne sie beide«, sagt sie und lächelt ihn zum erstenmal offen an.

8
     
    SI E MACH T IH M keine Zusage. Sie wird sich die Sache überlegen. Es ist eine wichtige Entscheidung. Sie wird es sich überlegen und ihn dann benachrichtigen. Er, legt sie ihm nahe, täte in der Zwischenzeit gut daran, es sich ebenfalls zu überlegen. Sich zu fragen, ob er das, was er gesagt hat, tatsächlich hat sagen wollen. Wirklich hat sagen wollen.
    Fast eine Woche lang ist er zu einem Zustand exquisiter Ungewissheit verurteilt. Am fünften Tag – in der fünften Nacht – ist er sich plötzlich sicher, dass es nicht dazu kommen wird. Sein Instinkt, eine plötzliche Einsicht sagt ihm das. Es wird nicht, kann nicht dazu kommen. Wahrscheinlich wird sie jede Woche von einem halben Dutzend Männern aufgefordert, mit ihnen zusammenzuleben, Männern, die ihre Lust mit etwas Zärtlicherem verwechseln, etwas, was in dem Gewerbe, das sie praktiziert, keine Rolle spielen darf. Sie ist verhärtet, sie muss es sein: Die Vernunft besteht auf einem solchen Schluss. Sie ist verhärtet und innerlich hohl. Oder aber sie ist gütig, unendlich gütig und kommt zu seinem eigenen Besten nicht zu ihm. Ein Mann wie er, ein gebildeter Mann, ein Mann von Stand, der natürlich bestrebt sein muss, es in der Welt zu etwas zu bringen – sich mit einer Frau wie ihr zusammenzutun hieße für einen solchen Mann, sich dem öffentlichen Gespött, der Schande preiszugeben. Ein Aristokrat wie der Comte de S- könnte sich das leisten oder jemand von geringer Bedeutung, jemand, der es soweit gebracht hat, wie er es jemals bringen wird, und mit dem Verlust seines Namens nur sehr wenig verlieren kann. Für ihn jedoch – der weder groß noch klein ist – ist das eine Unmöglichkeit. Und das hat sie erkannt und beschlossen, ihn auf Kosten ihrer eigenen Bequemlichkeit vor seiner Torheit zu schützen.
    Er sehnt sich danach, mit jemandem zu sprechen. Nie ist er sich selbst so fremd gewesen, als wäre sein Leben ein Zimmer, in dem jeder vertraute Gegenstand durch etwas anderes ersetzt worden ist, das ihn bloß imitiert. Mit Armand reden? Aber Armand wird zu ungestüm sein, zu heftig dafür oder dagegen, zu amüsiert. Guillotin? Guillotin würde zuhören, würde die Sache mit der Erfahrung seiner Jahre vorurteilsfrei sehen. Aus medizinischer Sicht? Das ist nicht unwahrscheinlich. Vielleicht ist das ja die richtige Sicht. Er ist krank! Krank und nicht er selbst, nicht der, der er sein sollte.
    Er trifft den Arzt an einem warmen Vormittag dabei an, wie er, auf einem Hocker in der Werkstatt der Ärzte sitzend, einen der Schädel der Waisenkinder poliert. Bei diesem Anblick, beim Anblick des armen, immer blanker werdenden Gegenstandes auf der Hand des Arztes, verflüchtigt sich sofort jeder Gedanke an Beichte. Statt dessen sprechen sie über die Gebeine der Toten. Stirnbein, Scheitelbein, Hinterhauptbein. Dass die verschiedenen Knochen bei Säuglingen und Kleinkindern noch nicht fest zusammengewachsen sind, eine Notwendigkeit bei der Geburt, wenn der Schädel beim Durchgang durch den Geburtskanal einem ungeheuren Druck ausgesetzt ist.
    »Sie sind ganz und gar vollkommen«, sagt der Arzt und reicht Jean-Baptiste den Schädel. »Sie platzen nicht wie Melonen. Sie zerspringen nicht wie Glaskugeln.«
    Er

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