Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
er kann es nicht sagen. Er geht hinüber zu dem Fenster, dessen Läden nicht vorgelegt sind, öffnet es, spürt, wie die Abendluft an seinen Fingern vorbeiströmt. Seine Anwandlung von Zweifel hat sich gelegt, doch das gilt auch für seinen Schwindel, jene herrlichen blinden Minuten der Freude. Er hat Hunger. Großen Hunger. Er geht nach unten, um mit den Monnards zu Abend zu essen. Sie sind fast mit der Suppe fertig, aber die Terrine steht noch auf dem Tisch. Das ist der Moment, in dem er ihnen, Monsieur und Madame, sagen sollte, was er vorhat, wer morgen – wenn die Zeichensprache eines stummen Jungen verstanden wird – bei ihnen einziehen wird. Während er sich Suppe in den Mund löffelt, versucht er sich eine elegante, entschiedene Art und Weise einfallen zu lassen, wie sich das alles sagen lässt, doch noch bevor er beginnen kann, fängt er an zu lachen. Die Suppe fließt als dünnes braunes Rinnsal über seine Lippen in die Schale zurück. Er wischt sich die Lippen, räuspert sich. Entschuldigt sich.
Tagesanbruch. Er zieht sich den schwarzen Anzug an, geht Marie suchen, findet sie in der Küche. Sie steht vornübergebeugt am Küchentisch, lässt ein Stück Fleisch aus ihrem Mund baumeln, damit der Kater es sich mit der Pfote schnappt.
»Es ist ein Spiel«, sagt sie.
Er nickt, dann bittet er sie, sämtliche Kleider von Ziguette, sämtliche Porzellanschäferinnen, dilettantischen Aquarelle, Muschelschalen, bemalten Fingerhüte, bemalten Fächer, einfach alles aus ihrem Zimmer und in seins zu schaffen, wo es sich vorläufig der Einfachheit halber aufbewahren lässt.
»Wieso?« fragt sie.
»Ich möchte es benutzen.«
»Ziguettes Zimmer?«
»Ja.«
»Für Sie selbst?«
»Für mich. Ja. Für mich und … für noch jemanden. Eine Frau.«
»Eine Frau?«
»Sie wird bei mir wohnen.«
»Eine Frau?«
»Ja. Eine Frau. Ist das denn so merkwürdig?«
»Sind Sie mit ihr verheiratet?«
»Es handelt sich um … ein Arrangement. Zwischen uns. Sind denn die Männer und Frauen, die im Faubourg Saint-Antoine zusammenleben, in jedem Fall verheiratet?«
»Nein.«
»Dann ist es bei uns eben genauso.«
»Bestimmt wollen Sie, dass ich Sie bediene«, sagt sie. »Und die Frau.«
»Ich werde Ihnen zusätzlich etwas dafür geben. Die Hälfte von dem, was Monsieur Monnard Ihnen gibt.«
»Wann kommt sie denn?«
»Heute, denke ich. Vielleicht heute nachmittag.«
»Also werden Sie mich heute bezahlen?«
»Ich werde Ihnen etwas geben, wenn das Zimmer vorbereitet ist. Können Sie denn neben Ihren … anderen Pflichten noch Zeit erübrigen?«
Sie nickt, grinst ihn durchtrieben, aufgeregt an. Während des ganzen Gesprächs hat der Kater unverwandt auf den Mund des Dienstmädchens geschaut.
Nachdem er Lecoeur eine Reihe von Lügen aufgetischt hat – er müsse bei dem Goldschmied in der Rue Saint-Honoré Geldmittel holen –, kehrt Jean-Baptiste um zwei zum Haus zurück. Als er die Tür von Ziguettes Zimmer öffnet, schaut er voller Erleichterung auf den offenen und leeren Kleiderschrank, die Frisierkommode, auf der keine Nadel mehr liegt, die kahlen Wände. Vortreffliche Marie! Er wird zusehen, dass sie einen ansehnlichen Betrag dafür bekommt, genug für ein neues Kleid, ein gutes, etwas, womit sie renommieren kann, wenn sie einen Besuch zu Hause macht, falls sie ein Zuhause hat, etwas, was man als Zuhause bezeichnen kann.
Hat sie die Bettwäsche gewechselt? Er zieht den Überwurf zurück, untersucht das Kopfkissen auf blonde Haare, schaut dann spontan unter das Bett, findet dort etwas Kleines und Feines, das er hervorzieht und hin- und herwendet. Purpurroter Satin. Etwas aus purpurrotem Satin mit purpurrotem Spitzenbesatz. Eine Art Schuh, eine Art weicher … Was spielt es für eine Rolle, wie man das nennt? Dafür ist jetzt keine Zeit. Er faltet es, steckt es in die Tasche, hockt sich auf eine Ecke des Betts, steht sofort wieder auf und tritt ans Fenster, lehnt sich hinaus, bedenkt die Straße mit einem finsteren Blick, murmelt irgendeine billige Geistreichelei über Frauen und Pünktlichkeit vor sich hin, geht wieder zum Bett, tritt vor den Spiegel, bleckt und untersucht seine Zähne, zückt seine Uhr, sieht, dass es bis zur vollen Stunde noch fünfzehn Minuten sind, setzt sich wieder aufs Bett, betrachtet den Schmutz an seinen Schuhen, Friedhofsschmutz, vielleicht der Humus von toten Männern und Frauen, und ertappt sich dann dabei, dass er an Guillotins Charlotte denken muss, das konservierte Mädchen mit den
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