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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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langen Wimpern, die aus grauen, eingesunkenen Augenlidern hervorsprießen. Lidern wie alte Münzen. Warum muss er jetzt an die Toten denken? Kann er sie nicht einmal für ein, zwei Stunden vergessen? Nie hat er früher an sie gedacht, allenfalls an seinen verstorbenen Vater.
    Und wer zum Teufel ist das alte Gesicht, das aus dem Fenster auf der anderen Straßenseite zu ihm hersieht? Du spionierst also gern, wie? Na schön. Er steht auf und starrt mit vor der Brust verschränkten Armen zurück, starrt, grinst höhnisch und beginnt schon zu vermuten, dass es sich gar nicht um ein Gesicht handelt, sondern um etwas Hängendes, vielleicht sogar um das matte Licht eines Spiegels, als er das lebhafte Traben von Pferden, den Rhythmus gefederter Räder hört. Droschken haben ihre eigene Musik, und das hier ist unverkennbar eine Droschke. Er stürzt ans Fenster, schaut hinunter, sieht die Droschke vor dem Haus halten, sieht einen alten Kutscher von seinem Bock rutschen und nach hinten gehen, um den Schlag zu öffnen. Sieht, einen Moment später, ihren Kopf von oben. Den Scheitel.
    »Das wäre es also«, sagt er, und in der neuen Hohlheit des Zimmers gleicht seine Stimme der eines Schauspielers, ist so fremd wie die eines Schauspielers. Er rennt Hals über Kopf die Treppe hinunter, so dass seine Schuhe auf dem Holz klappern. Madame Monnard kommt aus dem Wohnzimmer, steht händeringend im Flur.
    »Brennt das Haus?« ruft sie, während der Ingenieur an ihr vorbeiläuft. »Monsieur! Monsieur!«

10
     
    IHR E ERSTE N GEMEINSAME N Stunden sind so qualvoll genierlich, dass beide sich zu dem Schluss gezwungen sehen, einen schweren Fehler begangen zu haben. Er redet zuviel und sagt dann fast eine halbe Stunde lang überhaupt nichts. Sie sitzt auf einem Stuhl neben der Frisierkommode, das Licht fällt ihr über die Schultern. Ihn peinigt der Gedanke, dass sie urplötzlich, unerklärlicherweise, doch nicht so hübsch ist, wie sie ihm bei allen ihren Begegnungen auf der Straße erschienen ist. Sie trägt ein weißes, mit roten und rosafarbenen Blumen besticktes Kleid. Steht es ihr? Und hoch auf ihrem Brustbein hat sie ein Mal, einen kleinen Schönheitsfehler, den sie mit Puder zu kaschieren versucht. Sie spricht – auf eine Weise, die nahelegt, dass sie ihn bemitleidet – über dies und das. Erkundigt sich höflich nach seiner Arbeit. Seiner Arbeit! Er ist ja kaum besser als ein Leichenräuber. Und soll er sie etwa nach ihrer Arbeit ausfragen?
    Das Licht im Zimmer verblasst zur Farbe von Waschlauge. Plötzlich ist er sehr wütend. Er würde gern eine bittere, schwachsinnige Bemerkung über Frauen, über Kurtisanen, Prostituierte machen. Etwas Unverzeihliches sagen. Statt dessen sagt er: »Wir sollten essen.«
    »Hier?«
    »Wo denn sonst?«
    »Sie essen mit den Monnards?«
    »Natürlich.«
    »Vielleicht könnten wir heute abend auf dem Zimmer essen?«
    »Irgendwann müssen Sie sie ja kennenlernen. Das kann ebensogut jetzt geschehen.«
     
    Unten im Wohnzimmer sitzt Madame Monnard allein am Kamin. In den Wochen seit Ziguettes Abreise hat sie viel an Lebenskraft eingebüßt. Es kommt zu kurzen, tränenreichen Episoden, Schniefereien in ein zusammengeknülltes Taschentuch, Seufzern, feuchten Blicken in die Ferne, gelegentlich zu einem unwillkürlichen Klagelaut. Sie erfährt keinen sichtbaren Trost von ihrem Mann, vielleicht von überhaupt niemandem. Zuweilen macht sie den Eindruck, als nähme sie gar nicht wahr, dass die Welt um sie herum sich weiterdreht, aber sie ist doch verblüfft darüber, Baratte konstatiert es zufrieden, Héloïse Godard ins Zimmer kommen zu sehen.
    Marie hätte sie natürlich vorwarnen können; Marie hat sich dagegen entschieden. Der Besucher, der am Nachmittag an die Tür klopfte, war, soviel sie wusste, einfach ein Bekannter von Monsieur Baratte, zweifellos jemand vom Friedhof. Vielleicht dieser ziemlich furchteinflößende Mensch, Monsieur Lafosse. Und jetzt das. Das! Das plötzliche, fast traumartige Erscheinen einer Frau, deren Name (gesetzt, jemand wüsste ihn, ihren wirklichen Namen) in feiner Gesellschaft nicht in den Mund genommen werden darf.
    »Madame Monnard, Mademoiselle Godard. Mademoiselle Godard wird ab jetzt im Haus wohnen«, sagt Jean-Baptiste.
    »Ich hoffe, Madame«, sagt Héloïse, »das macht Ihnen nicht allzu viele Umstände?«
    »Ich werde mich mit Ihrem Mann«, sagt Jean-Baptiste, »über die zusätzliche Miete einigen.«
    Madame Monnard nickt. Sie blickt vom einem zum anderen, verdreht das

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