Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
so großen Kirche braucht man auch eine kräftige Stimme.«
»O ja, gewiss, Mademoiselle. Ja, da haben Sie ganz recht.«
» Schurke !« brüllt Monsieur Monnard und springt von seinem Stuhl auf. Angesteckt von der im Zimmer herrschenden Atmosphäre kaum unterdrückter Regellosigkeit, ist Ragoût auf den Tisch gesprungen und hat sich einen Bissen von Monsieur Monnards Aal geschnappt. Er entwischt damit unter das Pianoforte. Monsieur Monnard, der seinen Gefühlen endlich freien Lauf lassen darf, schleudert seinen Teller nach dem Kater, allerdings zu ungestüm. Der Teller trifft die Seite des Instruments und zerspringt in einem Schauer von Porzellan und grauer Sauce. In der darauffolgenden Stille steht Jean-Baptiste auf. Einen Augenblick später folgt Héloïse seinem Beispiel.
»Sie müssen müde sein nach der Fahrt, Mademoiselle«, sagt Madame Monnard leichthin.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie daran denken«, sagt Héloïse, obwohl sie nicht mehr als ein halbes Dutzend Straßen weit gefahren ist. »Auch Ihnen gute Nacht, Monsieur«, sagt sie.
Monsieur Monnard nickt, knurrt, hebt aber nicht – kann es vielleicht nicht – den Blick vom Boden, wo Ragoût, nachdem er sein Stück Aal verschlungen hat, sorgfältig Sauce von den größeren Tellerscherben ableckt.
Sie gehen aufs Zimmer – ihrer beider Zimmer, wenn es das denn ist. An diesem Abend, in diesem Zimmer, ist es nicht sonderlich kalt (noch vor wenigen Wochen hätten sie ihren Atem gesehen), aber Jean-Baptiste kniet sich auf den Kaminvorleger und beschäftigt sich damit, Feuer zu machen. Als es brennt, tritt er zurück, um es zu betrachten, dann, während er immer noch aufs Feuer schaut, sagt er Héloïse, dass er zum Friedhof zurückkehren muss.
»Jetzt?«
»Sie werden gerade die Karren beladen.«
»Werden Sie lange wegbleiben?«
»Solange es nötig ist.«
»Und es gibt niemand anders, der das erledigen könnte?«
»Darum geht es nicht.«
Er geht rasch hinaus. Sie schaut auf die Rückseite der Tür, hört seine Schritte auf der Treppe. Kurz darauf hört sie das Geräusch der Haustür. Mehrere Minuten lang verharrt sie in der gleichen Haltung, das Gesicht ausdruckslos. Dann hebt sie die Hand, wischt sich zwei Tränen, die sie nicht vergießen möchte, aus den Augen und geht zur Frisierkommode. Sie löst das Baumwollband in ihren Haar und bindet es neu, streift sich die Schuhe ab, reibt sich die Außenseite ihres rechten Fußes, wo der Schuh drückt, und beginnt, sich die Kleidung aufzuhaken und aufzuschnüren, mit Ösen, Schleifen und Nadeln zu hantieren, bis sie nur noch Unterrock, Unterhemd und Strümpfe trägt. Sie öffnet eine Reisetasche aus Teppichstoff – eine von drei großen Taschen, in denen sie alle ihre Sachen mitgebracht hat – und nimmt ein gestepptes Nachtgewand, ein Paar Lederpantoletten, eine Flasche Orangenwasser, ein Tuch heraus. Sie reinigt sich das Gesicht mit dem Orangenwasser, wischt sich den Hals, wischt sich unter den Armen und zwischen den Brüsten. Der Nachtstuhl steht in der Zimmerecke. Davor gibt es einen kleinen Wandschirm aus gefältelter Baumwolle auf einem Holzrahmen. Sie setzt sich, und als sie fertig ist, säubert sie sich mit dem Orangenwasser zwischen den Schenkeln. In wenigen Tagen wird sie ihre Monatsblutung bekommen, sie spürt, wie sie sich in ihr ankündigt, die leichte Schwere, das leichte Aufgeblähtsein. Sie hat Männer gekannt, denen vor der Blutung einer Frau ekelte, und andere, die sich – noch verstörender – davon angezogen fühlten. Der Ingenieur, vermutet sie, wird zur Mehrheit der Männer zählen, die möglichst überhaupt nicht daran denken.
Sie knöpft das Nachtgewand zu, schürt mit dem Haken das Feuer, beginnt sich das Zimmer genauer anzusehen. Es ist ganz offensichtlich nicht das Zimmer, das er gewöhnlich bewohnt, denn von seinen Sachen sind keine hier. Der Schrank ist leer (noch wird sie ihre Kleider nicht darin aufhängen). Es herrscht kein typisch männliches Durcheinander. Sie hätte sich gern den Anzug angeschaut, in dem sie ihn einmal erspäht hat, das lattichfarbene Ding, aber hier ist nichts, nicht einmal ein Hemd. Wessen Zimmer war das hier also, wenn nicht seins? Sie könnte raten – aller Wahrscheinlichkeit nach richtig raten –, wird statt dessen aber morgen das seltsame kleine Dienstmädchen ausfragen. Das Dienstmädchen wird alles wissen.
Wenigstens geht das Fenster zur Straße und nicht zum Friedhof. Und in der Rue de la Lingerie hatte sie keine Kunden,
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