Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
niemandem, dem über den Weg zu laufen sie in Verlegenheit bringen müsste. Nicht dass sie vorhat, sich in Verlegenheit bringen zu lassen. Zwar hat sie ihr früheres Leben – das sie bis vor ein, zwei Tagen geführt hat – hinter sich gelassen, aber sie wird sich nicht soweit erniedrigen, dass sie heuchelt. Sie hat in aller Öffentlichkeit gelebt, war fast vier Jahre lang eine öffentliche Frau, ist im vollen Licht öffentlicher Beachtung der Laufbahn gefolgt, der ihre Eltern sie in dem Wirtshaus an der Straße von Paris nach Orléans durch ihre Handlungen, wenn nicht durch ihre Worte, zugeführt haben. Aber vier Jahre sind lang genug. Sie hat damit abgeschlossen. Kummer und Zorn sind durch sie hindurchgegangen; sie hat sie wie einen Dornenzweig durch ihre eigenen Eingeweide hindurchgezogen, und sie haben sie wundgescheuert, haben tausend kleine Narben hinterlassen, sie aber nicht umgebracht. Und jetzt das. Ein neues Leben. Ein neues Leben mit einem ungeschickten, grauäugigen Fremden, den sie gleichwohl recht gut zu kennen scheint. Einem Fremden, der sie will – daran hat sie keinen ernsthaften Zweifel –, und zwar nicht bloß am ersten Dienstag jeden Monats wie der alte Ysbeau …
Beim Gedanken an den Buchhändler geht sie zu ihrer Reisetasche zurück, nimmt zwei Bücher heraus, trägt sie zur Frisierkommode, setzt sich und zieht die Kerze nahe heran. Was soll es sein? Cazottes Le Diable Amoureux ? Oder Algarottis Le Newtonisme pour les Dames ?Heute nacht wird sie vielleicht bei Algarotti und Newton bleiben. Und wenn er dann zurückkommt, kann sie ihn dadurch beruhigen, dass sie ihn bittet, ihr bestimmte Dinge zu erklären. (Das wird ihm gefallen; das gefällt allen.) Sie macht es sich bequem, findet die Seite, auf der sie aufgehört hat, und will gerade mit einem Kapitel über Optik beginnen, als sie unten an der Tür ein kratzendes Geräusch hört.
Er geht nicht auf den Friedhof, hat es auch gar nicht vorgehabt. Er geht in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Palais Royal. Er muss gehen, nachdenken, aufhören zu denken. Bekommt er einen seiner Kopfschmerzanfälle? Überraschenderweise nicht.
Wie bitter sie ihr Kommen bedauern muss! Dieses Abendessen! Grotesk! Und am allerschlimmsten sein eigenes Verhalten – seine Stumpfheit, seine Unhöflichkeit. Als hätte er etwas gegen sie! Sie, nach der er sich doch den ganzen Winter gesehnt hat! Warum kann man nicht einfach etwas wollen, einfach etwas begehren, ohne Widerspruch, ohne unerklärliches »Nein« in irgendeinem Winkel des Herzens? Und jetzt ist er weggelaufen, wo er doch eigentlich tun müsste, was jeder richtige Mann in Gesellschaft einer Frau wie Héloïse Godard täte. Armand wäre inzwischen schon beim zweiten Mal. Die Fensterscheiben würden aus den Rahmen springen. Natürlich ein hässlicher Gedanke, Armand mit Héloïse. Wenn er sie je anrührt …
Im Palais schimmert die Nachtluft von überflüssigem Licht. Leuchter, Lüster, Girlanden von Lampions. Wenn er den Friedhof so beleuchten könnte, könnten sie die ganze Nacht graben. Weitere dreißig Leute, ein Trupp, der schläft, einer, der gräbt, und morgens und abends jeweils Schichtwechsel. In Valenciennes wurden Flöze so abgebaut, Männer und Frauen, Pumpen und Pferde arbeiteten Tag und Nacht. Er wird sich weiß Gott etwas einfallen lassen müssen, irgendeine Neuerung, wenn sie nicht noch bei Anbruch des neuen Jahrhunderts damit beschäftigt sein sollen, die Toten auszugraben.
Er drängt sich vorwärts, sein schwarzer Rock streift grüne und rote, silberne und goldene Gewänder. Aus dem Gewühl schweben Gesichter heran. Ein dick gepuderter Mann zeigt dem Ingenieur seine Zungenspitze. Zwei Frauen, vielleicht Kurtisanen mit einer Wohnung im ersten Stock, blicken zu ihm auf, hören einen Augenblick auf, ein Äffchen zu necken, das mit einer silbernen Kette an einer Eisenstange angepflockt ist …
Vor dem Café Correzza steht ein junger Mann mit blondem Haar auf einem wackeligen Stuhl und hält eine Rede. Worum geht es? Um das Übliche. Die Herzen der Menschen, die Erfordernisse der Natur, die Verheißung der Philosophie, das Schicksal der Menschheit, die unbeugsame Gerechtigkeit, die Tugend … Und hat er Bêche erwähnt? Bêche den Rächer? Unmöglich, bei dem Lärm, den die anderen machen, etwas zu hören, bei dem Tratsch, dem Gelächter, dem Hin und Her von Dirnen und vornehmer Welt, dem halben Dutzend kleiner Musikkapellen, die im Hof spielen.
Er geht ins L’Italien, ergattert
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