Friedhof der Verfluchten
Angst war fort. Dafür hatte sie eine Spannung erfasst, denn sie ahnte, dass sie gleich etwas Entscheidendes erleben würde.
Die geheimnisvolle Frau hatte von einer Vergangenheit gesprochen, die bald Gegenwart werden würde. Zeiten würden sich überschneiden, und ein schicksalhaftes Erlebnis, das unmittelbar mit der Existenz dieser Stadt verbunden war, stand den beiden Menschen bevor. Das Mädchen würde sterben, obwohl es schon gestorben war. Unbegreiflich…
Lärm durchbrach die Stille. Auf einmal war alles anders. Verschwunden die Ruhe auf dem Friedhof, wieiter hinten, wo die Häuser lagen und auch das Schloss unter der seltsamen grauen Kuppe stand, blinkten plötzlich winzige Lichter.
Da ertönten Stimmen. Rauhe Kehlen schrien irgendwelche Worte, die weder Modesty noch Floren verstanden. Sie wussten nur, dass sie sich in Sicherheit bringen mussten, damit sie nicht frühzeitig entdeckt wurden.
»Kommen Sie mit!« zischte das Mädchen.
Lee J. Floren schaute sie überrascht an. »Wohin soll ich denn gehen?«
»Verdammt, in Deckung. Stellen Sie sich nicht an!« Sie wunderte sich immer mehr über die Inaktivität und die Angst des Mannes. Ihren Respekt hatte die Werbefrau längst vor ihm verloren. Für sie war Floren nur noch ein zitterndes Nervenbündel und eine feige Memme. Modesty Blaine hatte sich einen besonders hohen Grabstein ausgesucht. Er ragte zwar schief wie der Turm in Pisa aus dem Erdreich, aber er besaß genau die Breite, die ausreichte, um sich hinter ihm verbergen zu können. Das war auch nötig, denn wie aus dem Nichts erschienen die Bewohner des alten Brigadoon.
Modesty schielte um die Außenkante des Grabsteins, während der Manager neben ihr hockte und stur zu Boden starrte, als befände er sich mit seinen Gedanken ganz woanders.
Die junge Frau erschrak, als sie die bleichen, hassverzerrten Gesichter der Dorfbewohner sah. Aus ihren aufgerissenen Mäulern drangen abgehackt klingende, spitze Schreie, sie tobten voran, und an ihrer Spitze befanden sich die Frauen.
Sie waren wie Furien. Alte Weiber, widerliche Vetteln mit fetten, strähnigen Haaren, die in ihren schwieligen Händen dicke, handliche Knüppel hielten. Ihre Schreie waren schrill, kreischend, grausam, und sie schleuderten dem hell gekleideten Mädchen all ihren Hass entgegen. Das Mädchen hatte Angst. Es war auf halber Strecke zum Dorf stehen geblieben, schaute der Meute entgegen, blickte zurück, sah den Friedhof und wusste nicht, was es tun sollte.
»Töten werden wir dich!« kreischten die Weiber. »Du Hexe, du, du verdammte Hure!«
Sie ließen nicht locker und rannten los. Das Mädchen zuckte unter jedem Schrei zusammen. Angst flackerte in seinem Blick, die Furcht schüttelte es durch. Wenn es noch etwas retten wollte, dann musste es jetzt weg. Auf dem Absatz machte es kehrt und lief davon.
Modesty Blaine sah alles. Sie fieberte mit, hatte die Hände zu Fäusten geballt und spürte, wie ihre Fingernägel in das Fleisch an den beiden Handballen stießen.
Konnte das Mädchen es schaffen? Nein, es war unmöglich, dass es überlebte, die Geschichte sprach dagegen.
Eine unheimliche Jagd setzte ein. Obwohl sich das blondhaarige Opfer so beeilte, kam es kaum einen Schritt voran. Irgendwie schien die Zeit bei ihm nicht zu stimmen, es bewegte sich zwar, aber es lief dabei auf dem Fleck, während die Meute der kreischenden Weiber immer stärker aufholte und die Kleine bald zu fassen bekam.
Auch liefen die Ereignisse nicht so flüssig vor den Augen der Beobachter ab. Alles geschah so seltsam ruckartig, wie bei einem Film, der zwischendurch ein paar Mal angehalten wurde.
Dann flogen die ersten Steine. Das flüchtende Mädchen hatte den kreischenden Weibern den Rücken zugewandt, es konnte nicht sehen, was sich da zusammenbraute, und es bekam die ersten Treffer mit. Zwischen Schulter und Hüfte trafen zwei wuchtig geworfene Steine. Der blonde Flüchtling konnte nicht ausweichen, er sah die Steine nicht, und so schleuderten ihn die Treffer nach vorn. Das Mädchen geriet ins Straucheln, an einem verkrüppelten Baum wollte es sich noch festklammern, rutschte leider ab und fiel auf die Knie. Angela war näher gekommen. Modesty Blaine und ihr Chef konnten sie jetzt besser sehen.
Sie kniete am Boden, hatte den Kopf dabei halb erhoben, und ihr Gesicht war deutlich zu sehen. Sie empfand Schmerzen sowie Angst. Beide Gefühle spiegelten sich auf den verzerrten Zügen wider, und es kostete sie Kraft, sich wieder auf die Beine zu
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