Friedhof für Verrückte
spähte zu der Gestalt auf der anderen Seite des Zimmers hinüber und sah kaum etwas. Er hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht lag im Schatten; die kräftigen Arme waren ausgestreckt und die prankenähnlichen Hände lagen auf dem Schreibtisch. Ein Seufzer. Einatmen, Ausatmen.
Kopf und Gesicht des Monsters hoben sich ins Licht.
Die Augen ruhten auf mir.
Wie ein großer, dunkler Teigklumpen schwappte er in seinem Stuhl zurück.
Der massive Sessel ächzte unter der Gewichtsverlagerung.
Ich streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
Die Wunde-die-ein-Mund-war klaffte weit.
»Nein!« Der riesige Schatten bewegte einen langen Arm.
Ich hörte, wie die Wählscheibe des Telefons einmal, zweimal gedreht wurde. Ein Summen, ein Klicken. Ich drehte am Schalter. Kein Licht. Die Türschlösser sprangen zu.
Stille. Und dann wurde Luft stöhnend eingesaugt, dröhnend ausgeatmet: »Sie sind … wegen dem Job hier?«
Wegen was? schoß es mir durch den Kopf.
Ein überwältigender Schatten beugte sich durch die Dunkelheit zu mir herüber. Ich wurde angestarrt, doch ich sah keine Augen.
»Sie sind gekommen«, keuchte die Stimme, »um das Studio zu übernehmen?«
Ich! dachte ich. Dann kam es stoßweise, Silbe für Silbe: »Niemand ist im Augenblick fähig, den Job zu bekleiden. Eine Welt zu besitzen. Alles auf ein paar Hektar versammelt. Früher gab es nur Orangenbäume, Zitronenbäume, Viehherden hier. Das Vieh ist immer noch da. Wie auch immer. Es gehört Ihnen. Ich übergebe es Ihnen …«
Der helle Wahnsinn.
»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihren zukünftigen Besitz!« Er fuchtelte mit dem langen Arm und berührte einen verborgenen Mechanismus. Der Spiegel hinter dem Schreibtisch glitt zur Seite und offenbarte einen unterirdischen Luftstrom und eine Treppe, die in die Grabgewölbe hinabführte.
»Hier entlang!« flüsterte die Stimme.
Beim Umdrehen zog sich die Gestalt in die Länge. Der Sessel ächzte und quietschte, und plötzlich war da keine Gestalt mehr im Sessel oder dahinter. Der Schreibtisch lag so verlassen vor mir wie die Decks eines großen Schiffs. Der unstete Spiegel wollte sich wieder schließen. Ich machte einen Sprung nach vorne, aus Angst davor, ich würde im Dunkeln ertrinken, wenn die geheime Tür zuknallen und der schwache Lichtschein damit verlöschen würde.
Der Spiegel glitt zu. Mein von Panik verzerrtes Gesicht erschien in seinem Glas.
»Ich kann nicht nachkommen!« schrie ich. »Ich habe Angst!«
Der Spiegel erstarrte in seiner Bewegung.
»In der vergangenen Woche, ja, da hätten Sie Angst haben sollen«, wisperte er. »Aber heute nacht? Sie können sich jedes beliebige Grab aussuchen. Es ist meines.«
Seine Stimme kam mir jetzt wie die Stimme meines Vaters vor, wie er allmählich in seinem Krankenbett vergeht; er hatte sich das Geschenk des Todes so sehnlichst gewünscht, und doch Monate zum Sterben gebraucht.
»Gehen Sie einfach hindurch«, sagte die Stimme leise.
Großer Gott, dachte ich, das habe ich schon gesehen, als ich sechs Jahre alt war. Das Phantom, das hinter dem Spiegel ein Zeichen gibt. Die Sängerin, von seiner sanften Stimme angelockt, wagt sich näher heran, um zu lauschen, berührt den Spiegel, und seine Hand erscheint, um sie hinunter in die Gewölbe zu führen, zu einer Begräbnisgondel auf einem schwarzen Kanal, mit dem Tod als Gondoliere? Der Spiegel, das Wispern, das leere Opernhaus – und der Gesang, der ein für allemal verstummt.
»Ich kann mich nicht bewegen«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe schreckliche Angst.« Mein Mund füllte sich mit Staub. »Sie sind vor langer Zeit gestorben …«
Die Silhouette hinter dem Glas nickte. »Nicht ganz einfach, tot zu sein und doch in den Filmverliesen am Leben zu bleiben, zwischen den Gräbern. Die Zahl der Leute, die wirklich Bescheid wissen, möglichst klein halten, sie gut bezahlen, sie umbringen, wenn sie versagen. Tod am Nachmittag in Halle 13. Tod in einer schlaflosen Nacht jenseits der Mauer. Oder in diesem Büro, wo ich oft in dem großen Sessel schlief. Und nun …«
Der Spiegel erzitterte, ob von seinem Atem oder unter seiner Hand wußte ich nicht zu sagen. Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren. Meine Stimme, die Stimme eines Knaben, prallte vom Glas zurück: »Können wir nicht hier miteinander reden?«
Wieder dieses melancholische, beinahe gestöhnte Lachen. »Nein. Die große Tour. Sie müssen alles wissen, wenn Sie an meine Stelle treten wollen.«
»Das will ich doch überhaupt nicht! Wer
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