Friedhof für Verrückte
»Okay. Das Monster? Erzählen Sie !«
12
Ich blickte in die Runde und sagte: »Nein. Nein, ich bitte Sie. Roy und ich sind bald soweit, aber momentan …« Ich trank rasch einen Schluck vom miserablen Hollywood-Leitungswasser1 und fuhr fort: »Ich beobachte diesen Tisch seit drei Wochen. Jeder hat seinen festen Platz. Der und der sitzt hier, soundso dort. Ich könnte wetten, die Leute am anderen Ende kennen die von hier oben überhaupt nicht. Warum wechseln Sie nicht ein bißchen ab? Lassen Sie etwas Platz zwischen einander, damit man alle halbe Stunde eine Stuhlpolonaise machen kann, sich woanders hinsetzen und neue Leute treffen kann. Nicht immer das ewiggleiche Geschwätz aus den vertrauten Gesichtern. Entschuldigen Sie!«
»Entschuldigen!?« Fritz packte mich bei den Schultern und sein Lachen übertrug sich auf mich. »Okay, Leute! Stuhlpolonaise! Allez – Hopp!«
Applaus. Hochrufe.
Die Wellen der allgemeinen guten Laune schlugen höher, als man sich gegenseitig auf den Rücken klopfte, die Hände schüttelte, neue Plätze fand und sich dort niederließ. Was mich mit dem aufkommenden Gelächter und den Rufen nur noch mehr verwirrte und der Peinlichkeit aussetzte. Noch mehr Applaus.
»Wir müssen uns diesen Maestro hier jeden Tag an den Tisch holen, damit er uns soziales Verhalten und echte Lebensart beibringt«, dröhnte Fritz. »Na schön, meine Landsleute! Zu Ihrer Linken, junger Maestro, sitzt Maggie Botwin, die hervorragendste Cutterin der Filmgeschichte!«
»Quatsch!« Maggie Botwin nickte mir kurz zu und kümmerte sich dann wieder um ihr Omelett, das sie mitgebracht hatte.
Maggie Botwin.
Eine spröde, zurückhaltende, aber imposante Dame. Sie wirkte viel größer, als sie in Wirklichkeit war, was an ihrer Art zu sitzen, aufzustehen und zu gehen lag, und daran, wie sie ihre Hände in den Schoß legte, ihre Haare auf dem Kopf türmte, so wie es in grauer Vorzeit mal Mode gewesen sein mochte.
Einmal hatte ich gehört, wie sie sich in einer Radiosendung als Schlangenbeschwörerin bezeichnet hatte.
All die Filme, die flink und fließend durch ihre Finger glitten.
All die abgespulte Zeit, bestimmt, wieder und wieder abgespult zu werden.
Die Zukunft raste auf einen zu. Man hat nur den einen winzigen Moment, wenn sie vorüberzieht, um sie in eine freundliche, erkennbare, angenehme Vergangenheit zu verwandeln. Augenblick für Augenblick blitzt die Zukunft in Reichweite auf. Wenn man sich nicht ein Stück davon schnappte, ohne sich festzuklammern, wenn man die Zeit nicht formte, ohne diese Kontinuität einzelner Momente zu zerreißen, dann blieb nichts zurück. Ihr Ziel, dein Ziel, unser aller Ziel ist es, uns in diesem kleinen Stückchen Zukunft zu verewigen, das sich unter unseren Fingern in ein schnell verblassendes Gestern verwandelt.
Genauso war es beim Film.
Mit dem einen Unterschied: hier kann man den Moment immer wieder heraufbeschwören, so oft man will. Laß die Zukunft vorbeispulen, mache sie zum Jetzt, zum Gestern, und fange dann wieder mit der Zukunft an.
Was für ein großartiger Beruf, in dem man Meister über die drei großen Ströme der Zeit sein darf: die unendlich weiten, unsichtbaren Morgen; die verengte Perspektive des Jetzt, und das riesige Gräberfeld der Sekunden, Minuten, Stunden, Jahre, Jahrtausende, in dessen Saatbeet die anderen beiden keimen und knospen.
Und wenn man keinen der drei dahineilenden Flüsse der Zeit so recht mochte?
Ein Griff zur Schere. Schnipp! Na also. Gleich fühlt man sich besser!
Und nun saß sie hier, hatte die Hände eben noch im Schoß gefaltet, und schon hielt sie eine kleine Acht-Millimeter-Kamera hoch, mit der sie über die Gesichter der Anwesenden schwenkte, ein Gesicht nach dem anderen, mit zweckdienlichen ruhigen Händen, bis die Kamera bei meinem Gesicht stehenblieb und mich fixierte.
Ich hielt ihrem Blick stand und erinnerte mich an einen Tag im Jahre 1934, als ich Maggie vor den Toren des Studios gesehen hatte, wo sie von all den Narren Aufnahmen machte, von den Gaffern und Autogrammjägern, und ich war mitten unter ihnen.
Ich wollte ausrufen: Können Sie sich daran erinnern? Doch wie hätte sie schon?
Ich duckte mich weg. Ihre Kamera surrte.
Genau in diesem Augenblick tauchte Roy Holdstrom auf.
Er stand suchend am Eingang der Kantine. Als er mich entdeckt hatte, winkte er nicht, sondern machte mir mit dem Kopf ein Zeichen. Dann drehte er sich um und marschierte hinaus. Ich sprang auf und machte mich aus dem Staub, bevor
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