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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie gesehen. Aber ich habe sie nicht umgebracht.« Er sah sie an, forschend, fragend: Glaubte sie ihm? Und nach einer Weile, in der sie nicht geantwortet hatte, sah er weg und fügte, leiser, hinzu: »Glaube ich.«
    Die Datsche war leer. Auf dem Fußboden des einzigen Raums lagen zwei zusammengefaltete alte Wolldecken. Das Einzige, was es außer den Wolldecken gab, waren Kaninchen. Sie saßen in den Ecken des Raums, zusammengekauert zu großen Klumpen, still, schlafend, ihre Nasen leise bebend beim Träumen.
    »Ich weiß nicht, warum, aber sie kommen alle zu mir«, sagte Lenz. »All diese Kaninchen, die Aljoscha jetzt nicht mehr schlachten wird. Ich kann … ich kann Tee machen? Es gibt einen alten Herd, in der Flasche ist noch Gas … sie haben es damals wohl vergessen … und Sie müssen … du musst … etwas Trockenes anziehen. Komm.«
    Siri folgte ihm in die winzige Küche, als wäre dies ein Besuch in einem Studentenwohnheim. Lenz gab ihr ein Hemd und eine Hose, und sie hielt sie einen Moment in der Hand, unentschlossen. Im Regal neben dem Gasherd saß ein Kaninchen. Daneben standen ein paar Konservendosen und eine Packung Toastbrot. Er hantierte mit einem Topf.
    »Ich verstehe nicht … sie haben dich gesucht. Kaminski und seine Leute. Sie haben auch hier gesucht …«
    »Manchmal bin ich unsichtbar«, sagte Lenz und lächelte. »Zieh das Zeug an. Bitte. Du wirst krank.«
    Siri legte den Mantel auf den Fußboden.
    »Und du?«
    »Ich bin nicht so nass. Ich war nur kurz da draußen. Ich dachte, ich hätte Iris gesehen … aber da warst nur du.«
    »Ja«, sagte sie leise. »Da war nur ich.«
    Dann begann sie, im Licht von Kerze und Gasflamme ihre nassen Sachen abzustreifen, und dachte daran, wie sie sich schon einmal aus nassen Sachen geschält hatte, am Ufer eines Entwässerungskanals. Es schien sehr lange her zu sein. Als sie das Hemd ausgezogen hatte und aufblickte, hatte Lenz sich umgedreht. Er wollte sich wieder abwenden, ertappt. Doch sie schüttelte den Kopf.
    »Es ist okay«, sagte sie. »Guck ruhig. Es gibt nichts Neues zu sehen.«
    Er stand vor dem Herd, das Wasser aus der Jacke tropfte auf den verblassten Flickenteppich, und sah ihr zu, wie sie sich auszog, ernst und still, und sah ihr zu, wie sie sich wieder anzog. Sein Hemd reichte ihr bis zu den Knien. Die Hose hielt nicht. Sie fädelte ihren Gürtel durch die Schlaufen. Es half wenig. Sie konnte die Farben im Kerzenlicht nicht erkennen. Aber sie ahnte, dass die Kleider, die sie jetzt trug, grau waren.
    »Ist alles, was du besitzt, grau?«
    Er zuckte die Schultern. »Kann sein.«
    »Warum?«
    »Ich weiß nicht. Es ist mit der Zeit grau geworden. Die wenigsten Leute können Farben sehen. Sie sehen die Welt einfach. Schwarz und weiß. Und grau. Du, du siehst die Farben. Du machst die Glasbilder … ich habe sie gesehen, die Stücke, durchs Kellerfenster … da ist eine Menge Farbe. Da ist eine Menge … Blau.«
    »Ja«, sagte Siri. »Und das Blau ist gebrochen. Alle blauen Gläser brechen.«
    Er nickte, als habe er das erwartet, nahm sie bei der Hand und führte sie zurück in den Wohnraum. Holte den Topf mit dem Tee. Und zwei Tassen. Kindertassen. Plastiktassen. Auf einer war ein verblassender kleiner Maulwurf aufgedruckt, auf der anderen ein Hase. Oder ein Kaninchen.
    »Iris und ich haben sie benützt, früher«, sagte er. »Wir haben sie hier versteckt. Es ist Lindenblütentee. Der war auch noch da. Von früher. Und Zucker. Man muss sparsam sein mit dem Zucker.«
    So saßen sie zusammen mitten in dem großen, leeren Raum, dessen Ecken mit Kaninchen ausgelegt waren, saßen auf den Wolldecken und tranken Lindenblütentee aus Kindertassen. Neben ihnen stand die Kerze. Sie machte ihre Schatten groß und unstet; Monster an Wänden. Lenz hob die Hand und ließ den Schatten der Hand einen Hund werden, eine Ziege, einen Vogel: Kinderspiele.
    Und Siris Herz gab ein kleines, hilfloses Weinen von sich, das niemand hörte außer ihr selbst.
    »Ich habe geträumt«, wisperte sie, »ich habe von einer Welt geträumt, in der es nichts gab als Kaninchen …«
    »Man träumt die komischsten Sachen«, sagte Lenz. Er saß so nah bei ihr, dass sie sich beinahe, aber nur beinahe, berührten.
    »Ja«, flüsterte Siri. »In der Welt mit ausschließlich Kaninchen gehörten wir zusammen. Du und ich.«
    »Wir könnten so tun, als gäbe es diese Welt«, sagte Lenz, und jetzt flüsterte auch er, als könnten sie die echten, ungeträumten Kaninchen wecken, wenn sie

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