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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zu laut sprachen.
    Siri stellte die Maulwurfplastikkindertasse ab und legte ihre Arme um ihn, und es war ein seltsamer Moment, weil er wieder nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Sie musste ihn zu sich ziehen, fast mit Gewalt, er war noch immer zu ungeschickt. Und dann beugte er sich doch hinunter und küsste sie. Und sie dachte, dass er auf jeden Fall mehr Übung hatte als beim ersten Mal. Auf seiner Zunge fand sie den Lindenblütentee und den Zucker und die Erinnerung an den Sommer vor zweiunddreißig Jahren. Die Welt, in der es nichts gab außer Kaninchen, umhüllte sie mit all ihrer Seltsamkeit; der Dunkelheit, dem Kerzenlicht, dem kahlen Raum und der Deckeninsel in seiner Mitte – die Welt schützte sie und gab der äußeren, wirklichen Welt nichts preis.
    Und sie küssten sich lange.
    »Kann ich hierbleiben?«, fragte sie schließlich. »Ich will nicht zurück in die Kellerwohnung von Frau Hartwig. Ich will …«
    Er fuhr mit der Hand durch ihr Haar, etwas, das er noch nie getan hatte.
    »Iris hat damals beinahe das Gleiche gesagt«, flüsterte er, »ich will nicht zurück, hat sie gesagt …«
    Er breitete die Decke über sie beide; die andere Decke brauchten sie, um darauf zu liegen, denn der Boden war hart und kalt. Sie lagen ganz dicht beieinander, wie die Kaninchen, ihr Rücken an seine Brust gedrückt. Sie hatte die Hose, die ohnehin viel zu groß war, ausgezogen, aber das Hemd angelassen.
    »Das hier ist alles«, sagte er leise. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, wenn er sprach. »Sonst nichts. Nichts wird geschehen. Kannst du damit leben?«
    »Ich glaube«, sagte sie und drängte sich ein wenig enger an ihn. Und dann schlief sie ein.
    Das Letzte, was sie dachte, war: Ich trage nichts als ein Hemd von Lenz. So haben sie Iris gefunden. Sie trug nichts als ein Hemd von Lenz.
    Dennoch oder gerade deswegen fühlte sie sich vollkommen geborgen.
    Der geblümte Regenmantel lag neben den Decken auf dem Boden, zum Trocknen ausgebreitet. Aber sie wäre nicht herangekommen, wenn sie den Arm ausgestreckt hätte.
    Siri träumte.
    Was sie im Traum sah, war wie eine Postkarte. Schön, wunderschön, wunsch-schön.
    Auf der Karte war eine Frau in einem Café, an einem Tisch, mit einer ganzen Kanne heißer Schokolade vor sich. Sie saß an einem Tisch am Fenster und sah auf etwas hinaus, das weit und weit weg war. Das Meer, natürlich. Und die Frau, die Frau war sie selbst.
    Sie saß ganz allein dort, doch sie sah jemanden in der Ferne, in einem Ruderboot … Lenz.
    Er stand im Boot, es sah wackelig aus, sie sprang auf von ihrem Cafétisch und wollte rufen: Vorsicht! Das Boot wird kippen! Siehst du denn die Wellen nicht? Das Meer da draußen ist tief und kalt …
    Sie rief nicht, denn er konnte sie ja nicht hören, da war eine Scheibe zwischen ihnen, und Siri begriff, dass der Raum nicht zu einem Café gehörte, sondern das Wohnzimmer der Datsche war, die dem Direktor gehörte.
    Und vielleicht war sie nicht so allein, wie sie dachte, vielleicht würden sie gleich hereinkommen, der Direktor, Lena, das Baby, Leute, zu denen sie passte, weil es die-Welt-gesehen-habende Menschen waren, studiert-habende Menschen.
    Lenz hatte sie jetzt entdeckt, er stand da und winkte, und das Boot schwankte, schwankte … hör doch auf zu winken! Er nahm ein Blatt Papier aus der Tasche seiner grauen fleckigen Jacke; es war blau, das Papier, himmelblau, und sie sah ihn ein Schiffchen daraus falten, das ließ er schwimmen. Er schickte es zu ihr. Und bückte sich und hob ein Paddel vom Boden des Bootes auf, aber er konnte mit dem Paddel nicht paddeln; es war kein Paddel, es war ein Spaten.
    Sie setzte sich wieder. »Tu es nicht«, flüsterte sie. »Tu es nicht, paddle nicht zu mir! Das Boot wird kippen. Paddle, wenn überhaupt, von mir weg. Das hier, das mit uns, das kann nicht gut gehen. Flieh, mein Kind, mein Friedhofskind. Flieh, solange du kannst!«
    Siri erwachte davon, dass jemand sie ansah.
    Sie öffnete die Augen. Sie brauchte einen Moment, um das Gesicht zu erkennen, das Gesicht eines älteren Mannes, den sie schon gesehen hatte, aber nicht wirklich kannte … der Direktor. Er kniete vor ihr auf dem Boden und musterte sie sehr aufmerksam.
    Sie setzte sich auf und sah sich um. Der Raum war noch leerer als zuvor. Die Kaninchen waren fort.
    »Guten Morgen«, sagte der Direktor. »Was … tun Sie hier?«
    »Ich … habe geschlafen …« Siri brach ab. »Wo ist der Mantel?«
    »Der Mantel mit den bunten Blumen, der

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