Friedhofskind (German Edition)
Friedhofskind sie mehr daran erinnerte, dass dies ein Friedhof war. Sie sah die Fischer unter ihnen, die Fischer waren nicht draußen, sie waren hier, um zu rauchen und zu reden. Einen Augenblick lang hatte Siri Angst, es wäre ein weiterer Unfall passiert. Aber der Mittelpunkt des Rauchens und Redens war die junge Frau, die hinter dem hohen Maschendraht wohnte. Sie saß auf der Bank beim Tor und hielt ihre Tochter auf dem Schoß, und es sah aus, als säßen sie schon eine Weile dort. Sie hielt ihre Tochter sehr fest, sie hielt sie, als wäre sie ein kleineres Kind. Oder als wäre sie ein großes Kind, dem etwas zugestoßen ist. Das Kind selbst wand sich ein wenig, es wollte losgelassen werden, es wollte mit seinem Bruder herumrennen und nicht mehr still sitzen, aber seine Mutter gab es nicht frei.
Siri stellte sich zu ihnen, den Saatkartoffelspezialisten, den Kuchenfrauen, den Fischern. Auf der anderen Seite der Bank standen die Kaminskifreunde mit Kaminski.
»Frau Pechten!«, sagte Frau Hartwig. »Wir waren dabei, alles für die Beerdigung morgen zu besprechen … es weiß ja nun keiner, wer überhaupt die Grube aushebt … bringt kein Glück, eine Grube auszuheben auf einem Friedhof, ich würd es nicht machen, wenn ich ein Mann wär und einen Spaten hätte, ich nicht … und da dachte ich noch bei mir, wenn man wüsste, wo er steckt, dachte ich … aber jetzt das …«
»Sie weiß doch gar nicht, wovon Sie reden, die Arme«, sagte der Umbrich und klopfte Siri auf die Schulter. »Kann ja noch gar nichts gehört haben, ist ja dauernd am Arbeiten, mit den Fenstern, die werden sicher schön, nicht wahr? Maria Magdalena, die hab ich ihr gezeigt, die auf dem Fenster in der Mitte, dem wichtigsten … mit dem blauen Kleid …«
»Es ist nämlich wieder aufgetaucht, unser Friedhofskind«, sagte Frau Hartwig. »Die kleine Amy hier, sie hat ihn gesehen, den jungen Fuhrmann. Heute Morgen, am Steg. War baden …«
»Und war sich am Umziehen«, setzte der Umbrich hinzu. »Da stand er auf Aljoschas Boot und hat sie beobachtet. Hat versucht, sie herzulocken, aber sie ist gerannt. Kam hier im Dorf an, völlig aufgelöst.« Er nickte bekräftigend.
»Sie sind sofort los, aber sie haben ihn nicht mehr gefunden«, sagte Frau Hartwig. »Er ist wieder verschwunden …«
Siri ließ sie weiterreden und sah durch die kleine Menge hindurch, sah hinüber zu Kaminski. Er hatte durchaus bemerkt, dass sie da war. Jetzt legte er eine Hand auf die Schulter der Frau, die auf der Bank saß. Danach kam er zu Siri hinüber.
»Sie schützen einen Perversen«, sagte er leise. »Jemanden, der da draußen herumläuft und kleinen Mädchen auflauert. Nackten kleinen Mädchen. Die Kleine, die damals ertrunken ist, man sagt, sie war auch nackt, bis auf ein Jungshemd. Sie sind doch eine kluge Frau. Eine gebildete und schöne Frau. Sie sollten uns helfen.«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, flüsterte Siri. »Werter hat mich auch schon gefragt … ich weiß es nicht! Ich schütze niemanden!«
Schützen, dachte sie, war ein Lieblingswort von Kaminski. Wir werden Sie beschützen, Frau Pechten.
»Die kleine Amy könnte jemanden gebrauchen, der sie beschützt«, sagte Kaminski und nickte zu dem Kind hinüber, das mit einem rosa Plastikding spielte, einer Art Telefon oder Tamagotchi, Siri konnte es nicht erkennen. Das Kind hatte noch nasse Haare vom Schwimmen, aber es sah allenfalls gelangweilt aus. Die Panik, die es vom Steg mitgebracht hatte, stand jetzt in den Augen der hysterischen Mutter.
»Er hängt ja schon länger dauernd am Zaun bei denen rum und starrt«, murmelte Kaminski. »Weiß genau, dass der Vater seit Ewigkeiten auf Montage ist. Afrika oder wo. Hat sie immer beobachtet, der junge Fuhrmann. Karin hat gleich gesagt, dass er ihr unheimlich ist, so wie er ihre Kinder anguckt durch den Zaun. Na, unheimlich hin oder her, Tote hin oder her, egal, mit wem er spricht … man muss etwas tun. Wir waren überall. Wir waren noch einmal beim alten Fuhrmann, wir waren in der leer stehenden Datsche, die der Familie Weiß gehört. Er war nicht dort. Aber wir werden ihn finden.«
»Ja«, sagte Siri.
Übermorgen – übermorgen nach Berlin. Siri hätte früher fahren können, sofort fahren, sie konnte nichts tun ohne die blauen Gläser. Sie fuhr nicht. Sie lief herum, ohne Ziel, und versuchte, mit sich ins Reine zu kommen. Versuchte, sich die kleine Amy am Steg vorzustellen. Nackt. Sie war nur ein Kind; ein Kind, das mit rosa Plastikspielzeug
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