Friedhofskind (German Edition)
spielte, das auf einem Riesentrampolin sprang, das in einem Haus hinter Maschendrahtzaun lebte, mit einer hysterischen Mutter und einem abwesenden Vater. Ein Kind wie Iris damals.
War Lenz wirklich da gewesen, auf Aljoschas Boot, hatte er sie beobachtet? Hatte er gewollt, dass sie zu ihm kam? Warum? Was hatte er von ihr gewollt? Nein, dachte sie, nicht das, nicht das Offensichtliche. Nicht Lenz. Der Gedanke war absurd.
Aber war es weniger absurd, dass er Kaninchen rettete? War Lenz Fuhrmann einfach eine absurde Person?
»Was ist«, sagte sie zu sich selbst, »wenn Kaminski recht hat? Man kann ein Arschloch sein und trotzdem recht haben. Es wäre zu einfach … zu einfach, wenn es immer die Arschlöcher auf der Welt wären, die unrecht hätten. Vielleicht ist Lenz ein Monster. Mehr als ein Mörder. Und vielleicht … vielleicht nicht.«
Gegen Nachmittag begann es zu regnen, und Siri lief noch immer durch die Landschaft und hatte kein Ziel. Sie wünschte den Abend herbei, den nächsten Tag, die unvermeidliche Henning-Beerdigung, den nächsten Abend. Den Morgen, an dem sie nach Berlin fahren musste .
Es regnete nicht stark. Sie lief über die Felder. Sie spürte das Gewicht ihres Mantels. Es regnete stärker. Es regnete durch die Nähte des Regenmantels. Es würde aufhören. Sie ging weiter, sie würde zu Frau Hartwigs Kellerwohnung zurückkehren, wenn die Dämmerung hereinbrach. Sie wollte erschöpft sein, wenn sie dort ankam, sie wollte sich hinlegen und sofort einschlafen, das rote Telefon nicht einmal mehr ansehen, nicht mehr denken.
Und schließlich regnete es so sehr, dass sie nicht mehr wusste, ob die Dämmerung hereingebrochen war oder nicht. Sie stand im Wald. Irgendwo im Wald, irgendwo zwischen hohen Buchen, weit fort vom Steilküstenweg, wo die wilden Erdbeeren jetzt im Matsch ertranken. Da senkte sie den Kopf, besiegt vom Regen, und ging endlich zurück. Wie merkwürdig, auf ihrem Gesicht schmeckte der Regen salzig.
In der Welt mit ausschließlich Kaninchen, dachte sie, gäbe es wohl keinen salzigen Regen. Es gäbe keine kleinen Mädchen, die Geschichten von Männern erzählten, und es gäbe keine Zweifel. In der Welt mit ausschließlich Kaninchen würde sie Lenz treffen, zufällig, irgendwo, zwischen den Kaninchen, und zu ihm sagen: Du bist sehr, sehr seltsam. Ganz anders als alle, die ich bisher getroffen habe. Halt mich ein bisschen fest … Nein, das hörte sich falsch an, falsch und kitschig und dumm. In der Welt mit ausschließlich Kaninchen wären keine Worte notwendig.
Sie sah das blaue Kleid in dem Moment, in dem sie eigentlich nichts mehr sah, weil der Regen zum Sturm wurde. Das Blau leuchtete, als würde es angestrahlt, oder eher, als wäre es in das Bild hineingeschnitten, eine Collage im laufenden Film. Sie sah die Collage verschwommen, was am salzigen Regen in ihren Augen lag. Die Collage hob den Arm und winkte.
Siri blieb stehen. »Du läufst ja doch wieder weg«, flüsterte sie. »Du bist nicht einmal ein Geist, dies ist keine Geistergeschichte … Du bist nur eine Erinnerung. Eine, die ich nicht einmal besitze, weil ich dich nie gesehen habe.«
Das Mädchen winkte noch einmal. Siri wischte sich das Wasser aus den Augen. Sie sah das blasse Gesicht zwischen den Bäumen jetzt deutlich; die Haare, die vom Regen schwer und nass waren, nicht länger blond und lockig. Sie sah, wie die Lippen des Mädchens sich bewegten, wie sie ein Wort formten: Komm.
Da begann Siri zu rennen. Sie rannte auf das Mädchen zu, und das Mädchen wandte sich ab und rannte ebenfalls, aber diesmal verschwand sie nicht; sie ließ Siri ein Stück aufholen. Ich werde dich trotzdem verlieren, dachte Siri, hier, mitten im Regen; der Sturm war zu stark, er peitschte ihr das Regenwasser ins Gesicht, machte den Untergrund schlüpfrig und ließ sie nicht vorankommen.
»Wohin?«, rief Siri. »Wohin führst du mich? Was willst du von mir?«
In dem Moment, in dem sie aufgeben wollte, stehen bleiben, Luft holen – in diesem Moment streckte das Mädchen die Hand aus und griff im Rennen nach Siris Hand. Und sie spürte sie. Sie spürte, wie die Finger des Kindes sich in ihre schoben, warm und wirklich.
»Iris«, flüsterte Siri. Der Regen schluckte den Namen.
Und Iris zog sie mit sich weiter, zog sie mit sich durch den Sturm.
Sie wünschte, sie hätte die Szene von außen beobachten können, sich, die Erwachsene – und das Mädchen im blauen Kleid. Sie wünschte, sie hätte sehen können, wie sie durch den Wald
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