Friedhofskind (German Edition)
Frau in dem bunt geblümten Mantel. Von der starken Siri Pechton. Du bist nicht selbstbewusst. Du bist nicht schön. Du bist nicht sie. Sie … sie wäre ganz anders gewesen.«
»Er war also da, ja?«, fragte Lena eine halbe Stunde später und goss Siri Kaffee nach. Auf ihrem Schoß saß das Baby und versuchte mit großem Ernst, seine Hand in eine Joghurtschüssel zu stecken.
»Er war drüben, in der verlassenen Datsche? Das ist seltsam. Ich meine, sie haben ihn da drüben gesucht, Kaminski und seine Freunde.«
»Wer?«, fragte Siri. »Wer war da?«
Lena sah sie an und grinste.
»Gut«, sagte Siri und verbarg ihr Gesicht in der Kaffeetasse. »Er war da. Aber jetzt ist er fort, und ich weiß nicht, wo er ist. Er hat alles mitgenommen. Sogar … lach mich jetzt nicht aus … sogar die Kaninchen. Gestern Nacht war die ganze Datsche voller Kaninchen.«
Sie sah von der Kaffeetasse zu dem großen Fenster, von dem sie geträumt hatte. Jetzt hingen ihre Sachen dort über einem Stuhl, um zu trocknen; sie hatte sie mitgebracht, weil es hier wärmer war. Und weil Kaminskis Leute, wenn sie die leer stehende Datsche noch einmal durchsuchten, nicht unbedingt ihre Kleider dort finden mussten.
Durch das Fensterglas schien das Meer wie eine blaue Sonne. Doch es war kein Ruderboot darauf unterwegs. Es war gar kein Boot dort.
»Die Fischer sind gar nicht draußen …«, murmelte Siri, eigentlich, um vom Thema abzulenken.
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie auf Frau Hennings Beerdigung sind«, sagte der Direktor.
Siri zuckte zusammen. »Frau Hennings … wann ist sie? Die Beerdigung?«
Der Direktor sah auf die Uhr. »Müsste in einer halben Stunde beginnen.«
Siri schob ihren Stuhl zurück. »Ich sollte …«
»Warten Sie.«Der Direktor nahm das Baby, um es auf seinen Schoß zu setzen und ihm das Joghurt von der großen Nase zu wischen. »Lena, du könntest ihr eine von deinen Hosen leihen. Diese hier wird Frau Pechten verlieren. Und es ist vielleicht nicht gerade klug, da unten im Dorf in Sachen von Lenz Fuhrmann herumzulaufen. Wenn sie im Dorf wirklich denken, er hätte diese Frau umgebracht.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Siri. »Was denken Sie denn?«
Das Baby gluckste. Der Direktor wiegte nachdenklich den Kopf. Siri sah, wie Lena ihre Hand auf seine legte.
»Wir haben nichts gegen Lenz. Ich nicht, die Kleine nicht und der Direktor auch nicht.«
»Ich denke«, sagte der Direktor bedächtig, »dass jeder selber wissen muss, was er denkt. Wissen Sie, ich habe diese Datsche schon lange, Sie wissen das. Es zieht mich immer wieder hier raus … Aber mit dem Dorf hatte ich nie viel zu tun. Manchmal kommt es mir sehr … wie soll ich sagen … sehr dunkel vor. Dunkel und eng. Lenz Fuhrmann ist ein Teil dieser Dunkelheit und ein Teil dieser Enge. Damals, als er ein Kind war, war ich selbst noch jung. Wir hatten die Datsche gerade erst bekommen, meine Frau und ich … sie ist vor ein paar Jahren gestorben.« Er lächelte, ein Erinnerungslächeln. »Damals waren wir vielleicht so alt wie Sie jetzt. Wir haben nicht sehr auf das geachtet, was im Dorf passierte, wir waren nur an den Wochenenden da, nur an manchen sogar, und wir hatten unser eigenes Leben, noch keine Kinder … es gab all diesen Aufruhr mit dem ertrunkenen Mädchen, aber der Aufruhr, verstehen Sie, fand in einer anderen Welt statt, nicht in unserer. Später, ich weiß noch … da war er vielleicht sechzehn … da habe ich ihn einmal im Wald getroffen, den jungen Fuhrmann. Er saß auf einer Kiefer, oben an der Steilküste, und schnitzte an einem Ast herum und sprach mit sich selbst. Ich dachte, er wäre zurückgeblieben, es gibt ja genug von der Sorte hier auf den Dörfern. Es hat gedauert, bis ich begriffen habe, dass er das nicht ist. Er ist ein Kind. Ich habe die Geschichten natürlich gehört, die sie sich erzählen. Wenn man zum Konsum-auf-Rädern geht, um einzukaufen, erzählen die Leute gerne Geschichten. Und ich denke … sie haben ihn nie erwachsen werden lassen. Er ist das Friedhofskind für sie, er wird es immer bleiben. Es ist ein Ausdruck der Enge, verstehen Sie? Sie kann einen Menschen so sehr einengen, dass er zu dem wird, wofür sie ihn halten.« Er schüttelte den Kopf. »Armer Kerl.«
»Mein lieber Direktor«, sagte Lena, stand auf und trat hinter ihn, um die Arme um ihn zu legen. »Du denkst zu abstrakt. Man könnte ja glauben, du wärst Philosoph und nicht Musiker! Lenz Fuhrmann ist kein Symbol. Er ist ein Mensch.« Sie
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