Friedhofskind (German Edition)
hier auf dem Boden lag? Ich habe ihn aufgehängt. Er war nass.« Der Direktor deutete hinter sich, wo der Mantel an der vorhanglosen Vorhangstange hing. »Vielleicht ist er jetzt schon trocken. Die Sonne muss die ganze Zeit darauf geschienen haben. Es ist ein paar Stunden her, dass ich ihn aufgehängt habe. Sie haben so fest geschlafen … ich dachte nur, ich komme noch mal vorbei, um nach Ihnen zu sehen.«
Siri schüttelte sich, versuchte, den Schlaf loszuwerden, den Traum.
»Wie spät ist es?«
Der Direktor stand auf und sah auf die Uhr, eine altmodische Armbanduhr. »Gleich zehn.«
»Wo ist Len…«, begann sie und biss sich auf die Lippen. »Lena?«
»Lena? Drüben, mit der Kleinen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass Sie hier sind. Ich hatte das Gefühl, ich sollte zuerst herausfinden, warum Sie da sind. Wie sind Sie reingekommen? Ich meine, das Tor zu diesem Grundstück ist … war … verschlossen. Seit damals. Seit die Familie Weiß weggegangen ist.«
»War es? Gestern Nacht stand es offen. Ich war spazieren, allein, weit … und dann kam der Sturm und der Regen … ich war so nass …«
Sie ließ sich zurück auf die Decken fallen und fluchte lautlos. Ich wollte nicht so aufwachen , dachte sie. Lenz. Lenz? Ich wollte neben dir aufwachen. Wo bist du? Habe ich auch den Abend nur geträumt, genau wie das Paddelboot? Warst du nie hier?
»Kommen Sie doch mit zu uns rüber, zum Frühstücken«, sagte der Direktor.
Seltsam, Siri nannte ihn in Gedanken immer nur den Direktor. Vielleicht, weil Lena ihn so nannte. Bei Lena klang es vertraut, wie ein Kosename. Der Direktor besaß natürlich einen Nachnamen, und sie versuchte krampfhaft, sich an ihn zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Er lächelte ein freundliches, nachsichtiges Direktorenlächeln.
»Ich habe Brötchen geholt. Im Dorf, beim Konsum-auf-Rädern. Lena freut sich immer, wenn ich Brötchen hole … sie hat es nicht leicht, wissen Sie, die Kleine schläft immer noch nicht durch, und wenn sie mit ihr in der Stadt ist, hilft ihr niemand. Mein Sohn ist zu selten zu Hause … der hat seine eigenen Baustellen im Leben mit der Firma … sie kommt nicht mal mehr dazu, zu spielen. Die Musik ist ihr verloren gegangen.« Er schien zu merken, dass er von Dingen sprach, die nichts mit Brötchen zu tun hatten. »Kommen Sie«, wiederholte er. »Trinken Sie einen Kaffee mit uns.«
»Ich … ich komme gleich nach«, sagte Siri. »Gehen Sie doch schon voraus.«
Sie schlüpfte in die Hosen und ging einmal durch die ganze Datsche. Lenz war nicht da. Es gab nur den Wohnraum, die Küche und das Bad, und in keinem der Räume fand sie auch nur seine Spuren. Die Regale in der Küche waren leer. Der Topf, in dem er Tee gekocht hatte, stand nicht mehr in der Spüle. Sie fand einen Topf – sie war sich nicht sicher, ob es der Topf war – in einem der Schränke. Sie fand eine Schachtel mit Lindenblütenteebeuteln, deren Verfallsdatum im Jahr 1982 gewesen war. Sie fand auch die Kinderplastiktassen mit dem Hasen und dem Maulwurf. Hatte sie sie schon gestern Abend gefunden, allein? Hatte ihre Phantasie in Regenkälte und Erschöpfung den Rest zu der Geschichte dazugedichtet?
Da war kein Staub an den Tassen. Andererseits standen sie in einem Schrank, also war die Abwesenheit von Staub nicht weiter verwunderlich. Sie ging ins Bad, hielt ihr Gesicht unter das eiskalte Wasser, das zögernd und in unregelmäßigen Spritzern aus der alten Leitung kam, und versuchte, endlich wach zu werden. Kleine schwarze Sommermücken schmückten die weißen Wände wie delikate Muster. An der Tür klebte ein Stück fast blinde Spiegelfolie.
Siri sah hinein und musterte sich selbst in den zu großen Kleidern.
Die Kleider! Waren die Kleider ein Beweis? Oder war es möglich, dass sie sie hier gefunden hatte?
»Nein«, flüsterte sie. »So verrückt bin ich noch nicht. Ich kann nicht nur geträumt oder erfunden haben, dass ich Lenz getroffen habe.«
Sie ließ die Kleider von ihrem Körper gleiten, um sich mit dem kalten Wasser zu waschen, und einen Moment lang stand sie nackt vor der Spiegelfolie. Die Unschärfe des Bildes war gnädig, doch ihre Augen sahen zu genau hin und fanden alle Makel ihres knochigen, lange nicht mehr jugendlichen Körpers hinter der Unschärfe wieder.
Hier, vor dem Folienspiegel, ohne die Augen des Dorfes, ohne eine lauschende Frau Henning, konnte sie ehrlich zu sich sein.
»Gib das Spiel jetzt auf«, flüsterte sie. »Das Spiel von der fröhlichen jungen
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