Friedhofskind (German Edition)
liefen, sich unter den Böen hinwegduckten, gleich nass, gleich schlammig, gleichermaßen dem Sturm ausgeliefert – und gleich entschlossen jetzt, ihn dennoch zu besiegen.
Und dann, ganz plötzlich, blieb Iris stehen. So plötzlich, dass Siri beinahe gefallen wäre. Sie hatten den Rand des Waldes erreicht, vor ihnen lag nichts mehr, nichts und Meer. Dies war der Weg an der Steilküste. Für Sekunden stand sie ganz nahe am Abgrund, ihre Hand noch immer in Siris.
»Ich war es«, sagte Iris, ihre Worte verwaschen vom Regen, halb übertönt vom Geräusch brechender Äste hinter ihnen im Wald. »Ich wollte zu dem Mädchen. Amy. Deshalb waren wir am Steg. Aber sie hat mich nicht gesehen. Sie hat nur Lenz gesehen. Ich dachte nur, es ist besser, wenn du das weißt. Er wartet auf dich.«
Siri wollte tausend Dinge sagen, tausend Dinge fragen, jetzt, da die Chance dazu endlich gekommen war. Doch sie sagte nur ein einziges Wort.
»Wo?«
Iris hob den Arm und zeigte den Weg entlang.
»Im Dorf?«
Sie schüttelte den Kopf. Dann betrat sie den Weg, und Siri sah das Absperrband hinter ihr: An dieser Stelle war Frau Henning gestützt.
»Nein!«, rief Siri. »Warte! Erklär mir … sag mir … weißt du, wer ich bin?«
Iris antwortete nicht. Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und trat einen Schritt zurück. Siri machte einen Satz vorwärts, griff nach ihr – griff ins Leere. Sie blickte in den Abgrund und erwartete, das blaue Kleid zu sehen, das durch den Regen fiel, aufgebläht wie ein Schirm. Aber sie sah nichts. Da war kein Kleid, kein kleines Mädchen; da war nichts als Regen.
Sie atmete ein paarmal tief durch. »Einbildung«, murmelte sie. »Alles Einbildung.«
Schließlich ging sie den Weg zurück, in die Richtung, in die der Kinderarm gewiesen hatte. Sie ging vorsichtig, auch hier war der Boden rutschig vom Regen. Sie merkte, dass sie zitterte. Sie war zu nass und zu kalt, um überhaupt noch zu denken. Die Datschen am Ende des Steiluferweges waren dämmerige, geduckte, hässliche Schemen in der anbrechenden Nacht. Bei der ersten Datsche, am Tor in der hohen Hecke, lehnte jemand. Lena, dachte Siri, Lena oder der Direktor. Aber was tat Lena hier draußen, im Regen?
Nein, dachte sie, als sie näher kam, nein, es war das falsche Gartentor, dies war die leer stehende Datsche, die Kaminski und seine Leute heute früh noch durchsucht hatten. Und natürlich war es nicht Lena, dort am Tor.
Es war ein viel größerer Mensch, ein Mensch wie ein Baum.
Siri blieb stehen und ließ den Regen über ihr Gesicht laufen, einfach so. Und er stand da und ließ den Regen über sein Gesicht laufen. Sie standen sich gegenüber, in der Dunkelheit, wortlos, und um sie wütete noch immer der Sturm und warf mit Ästen.
»Sie sind … sehr nass!«, rief Lenz schließlich, er musste rufen, der Sturm war zu laut.
Siri nickte.
Da öffnete er das Gartentor, und sie trat ein.
Es war der perfekte Zeitpunkt, dachte Siri, für eine Leerzeile. Aber im wirklichen Leben gab es keine Leerzeilen, Dinge gingen weiter, sie mussten irgendwie weitergehen.
Sie folgte Lenz über die ungemähte Wiese. Sie hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen; vielleicht war es auch ein Ast, der irgendwo im nahen Wald brach. Schließlich öffnete Lenz eine weitere Tür, die Tür zur leer stehenden Datsche der Familie Weiß, die seit zweiunddreißig Jahre nicht hier gewesen war. Siri schluckte, ehe sie über die Schwelle trat.
Und drinnen, jenseits von Regen und Sturm, war es auf einmal sehr still. Es war auch sehr dunkel. Für Sekunden hatte sie Angst. Dann hörte sie das Zischen eines Streichholzes, und dann sah sie Lenz’ Gesicht im Schein einer Kerze, die er in einen alten Aschenbecher geklebt hatte.
»Es gibt keinen Strom.«
»Dann kann er wenigstens nicht ausfallen«, sagte Siri, ihre Stimme ein wenig zitterig.
Sie sahen einander an, sie auf der einen und er auf der anderen Seite der Kerze, deren Licht sie trennte und zugleich verband. Lenz’ Gesichtszüge wirkten seltsam in diesem Licht, sie wirkten, als wäre er tatsächlich ein Ding aus Stein, grob behauen, ein Grabmal seiner selbst. Er sah nicht aus, als hätte er in den letzten beiden Wochen viel gegessen. Er sah auch nicht aus, als hätte er sonderlich viel geschlafen, und gleichzeitig sah er aus, als schliefe er – als befände er sich in einem permanenten Traum, aus dem es kein Erwachen gab.
»Ich habe sie nicht umgebracht«, flüsterte er. »Die Henning. Ich war da, ich hab
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