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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Kirche offen oder verschlossen war. Es hätte ihm nichts genutzt, in die Kirche zu fliehen.
    Kaminski, der Tapirhundemann und ihre beiden Freunde näherten sich ihm ganz langsam. Die beiden Fischer, deren Namen Siri noch immer nicht kannte, standen ebenfalls auf und schlossen die Reihe. Dass Lenz vor der Tür zur Kirche stand, hatte etwas Symbolisches, es war, als wollte er sie daran erinnern, dass dies geweihter Boden war. Heiliger Boden. Gottes Eigentum.
    Aber Gott war fremd in der Gegend.
    Kein Einziger der Kaffeetrinker und Kuchenesser glaubte an irgendeine Art von Heiligkeit.
    »So«, sagte Kaminski und krempelte seine Ärmel hoch. Nur noch drei oder vier Meter trennten die Reihe seiner Freunde von Lenz. Siri sah etwas Seltsames in seinem Nacken blitzen, etwas wie eine Kette, die er vorher nicht getragen hatte. Etwas baumelte um seinen Hals, ein kleiner, dunkler Gegenstand, sie konnte ihn nicht erkennen; es sah lächerlich aus. Kaminski sagte nichts mehr, »So« schien auszureichen.
    Lenz sah ihm entgegen, ohne sich zu rühren.
    Siri stand auf. Der Klappstuhl, auf dem sie gesessen hatte, fiel um, und einen Moment lang zögerte Kaminski, abgelenkt von dem Geräusch. Aber Siri wusste nicht, wozu sie aufgestanden war. Was sie tun wollte. Sie hatte keine Ahnung. Kaminski ging noch einen Schritt vorwärts, und da tat Siri, was sie immer tat: Sie presste beide Hände vor die Augen. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Sie konnte ohnehin nichts tun, sie waren zu sechst. Sie konnte Lenz nicht helfen. Sie wollte, dass es vorbei war, was auch immer sie vorhatten.
    Sie wollte, dass jemand die Zeit vorstellte, dass es Stunden später war, der Friedhof leer, die weiß eingedeckten Tische verschwunden und sie allein, wenn sie die Hände wieder von den Augen nahm.
    Sie wollte keine dumpfen Schläge hören und keinen Schrei und keine Geräusche eines ungleichen Kampfes und kein schweres Atmen und keine Tritte und kein Flehen und kein Verstummen.
    Und all diese Geräusche waren auch gar nicht da.
    Sie hatte sie sich eingebildet, für Sekunden. Es war ganz still.
    Sie nahm die Hände wieder vom Gesicht. Zwischen Lenz und der Reihe der Männer stand jemand.
    Es war Werter.
    Er stand ganz ruhig da, die Arme in die Seiten gestützt, und fixierte Kaminski, oder jedenfalls glaubte Siri, dass er das tat.
    »So«, sagte er, aber es war eine andere Art von »So« als die von Kaminski. Es war ein »So«, das keine Schadenfreude ausdrückte, keine Zufriedenheit – das jedoch auch keinerlei Widerspruch zuließ. Kaminski und seine Leute traten einen Schritt zurück. Siri sah Lenz’ Blick von einem zum anderen gleiten, er hatte die Augen leicht zusammengekniffen, alles andere als entspannt.
    Werter sprach sehr leise, als er sprach, aber jedes seiner Worte stand gestochen scharf in der klaren Luft des Sommernachmittags über dem Friedhof.
    »Wenn du deinen Job in der Werkstatt behalten willst, lässt du schön deine Hände von ihm«, sagte er zu Kaminski. »Wenn irgendjemand hier für Recht und Ordnung sorgt, dann seid das nicht ihr. Nicht ihr allein. Wir haben alle etwas mitzureden. Es gibt keinen Bürgermeister, weil wir Teil der nächsten Gemeinde sind. Also bin ich nur einer von vielen. Aber ich werde nicht zulassen, dass ihr Jungs hier irgendwelche Entscheidungen fällt.«
    Kaminski knurrte. Aber er sagte nichts.
    »Bevor wir jemanden verurteilen, müssen wir mit Sicherheit wissen, was er getan hat«, fuhr Werter fort. »Und es gibt keine Beweise. Setzt euch jetzt auf eure Plätze.«
    Die sechs drehten sich stumm und verbissen um und setzten sich tatsächlich, wenngleich widerstrebend. Werter trat ganz nah an Lenz heran, der sich nicht gerührt hatte.
    »Denk nicht, dass ich dich schütze, Junge«, sagte er. »Ich schütze die Gerechtigkeit. Die junge Mutter aus der Stadt hat gesagt, Frau Henning wäre von alleine gefallen, aber niemand glaubt das wirklich. Jemand hat nachgeholfen, wie auch immer. Sie sagen, du hast Frau Henning da runtergestoßen. Ist das so?«
    »Nein«, sagte Lenz.
    Kaminski und ein paar andere begannen zu murren, aber Werter hob die Hand, und sie verstummten.
    »Es gibt keinen Grund«, sagte Lenz.
    Werter nickte. »Eine Menge Leute sagen, es wäre eine Verwechslung gewesen. Es hätte jemand anderen treffen sollen, der eine ähnliche Jacke anhatte. Frau Henning wollte Walderdbeeren pflücken. Morgens, im Nebel. Angeblich. Keiner glaubt das. Sie ist losgegangen, weil sie gesehen hat, dass jemand anderer

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