Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
war immer ein Spiel. Schon mit Iris. Solange wir hier sind, existieren wir nicht. Solange man uns nicht sieht.«
    »Fuhrmann?«, rief Kaminski. »Bist du hier?«
    »Aber wenn du hinaufgehen würdest …« Sie sprach an seinem Finger vorbei, der auf ihren Lippen lag, und das war seltsam. »Er ist alleine. Er ist einen Kopf kleiner als du.«
    »Wenn Kaminski etwas passiert«, wisperte Lenz, »dann haben sie den Beweis. Dass ich bin, was sie glauben. Und das weiß Kaminski ganz genau. Dass ich ihm nichts tun kann. Ich bin auch nicht gut darin, jemandem etwas zu tun. Ich ziehe es vor, ab und zu nicht zu existieren.«
    »Wie Iris«, flüsterte Siri. »Iris existiert auch nur ab und zu …«
    Er verstärkte den Druck seines Fingers auf ihren Lippen. Still jetzt, still. Und sie schwieg. Aber er ließ seinen Finger, wo er war, er vergaß ihn dort, und er war sehr nah, und ihr wurde sehr warm in dem Kartoffelgrab unter der Erde.
    »Fuhrmann? Bist du hier?«
    Kaminskis Stimme kam jetzt näher.
    »Nur für den Fall, dass du mich hörst und ich dich nur nicht sehen kann!«, rief er. »Egal, wie du das machst! Hör zu! Ich bin nur gekommen, um dir eines zu sagen.«
    Siri hörte seine Schritte dort oben, unruhig, suchend.
    »Hör zu!«, wiederholte er. »Wir haben nicht länger Angst vor dir! Ich und meine Leute nicht! Deine Toten nützen dir nichts mehr. Es gibt ein Mittel dagegen. Ich habe lange gesucht, und es gibt eine Menge Quatsch und Humbug, aber eines funktioniert wirklich, scheint’s … die Hasenpfoten. Ha! Man braucht nur die Pfote eines schwarzen Kaninchens, es reicht, sie um den Hals zu tragen, an einer Silberkette, und die Toten können einem nichts mehr. Irre, Karin hat die Info ausgegraben, Dirk war lange genug auf Montage bei den Negern, und eins haben sie da in Afrika, was wir nicht haben, eine Menge schwarze Magie, er hat ihr davon erzählt und auch mal ein Buch mitgebracht … ich lass mich von keinem mehr aufs Dach locken, ich nicht. Stimmt schon, dass ich den Alten da oben gesehen hab, dachte, der will was von mir … konnte mich noch nie leiden, der Alte … war immer sauer, dass ich die Firma nicht übernommen hab und in Dächern gemacht hab … na, ich lass mir von keinem Toten mehr was befehlen. Auch wenn viele sicher sagen, dass das Unsinn ist. Ich hab ihn gesehen, den Alten, natürlich hab ich ihn gesehen, und da bin ich aufs Dach, und dann gefallen, natürlich, aber das passiert mir nicht noch einmal. Du hast es gesehen, oder? Bei der Kirche. Dass wir die Dinger tragen. Eins von Aljoschas schwarzen Kaninchen hat ausgereicht, haben ja vier Pfoten, die Dinger … ha … und weißt du, wo wir es gefangen haben? Im Garten vom alten Fuhrmann, saß da, als würd es auf dich warten … kann doch sein, was? Die Karnickel, die ham was für dich übrig … hat sich kaum gewehrt, das Biest … weißt du noch? Das Karnickel, was ich mir gefangen hab, und du wolltest es unbedingt retten? Vielleicht war’s ja das. War sowieso meins. Die Kette taucht man in das Blut von dem Vieh, Silber muss sie sein, und dann können einen die Toten kreuzweise. Verrückt. Aber warum nicht?«
    Lenz’ Finger zog sich von Siris Lippen zurück, und es war, als versuchte er, sich überhaupt zurückzuziehen, obwohl dafür nicht genug Platz war. Sie streckte ihre eigene Hand aus und fand sein Gesicht neben sich. Es war nass von Kindertränen. Er weinte um das schwarze Kaninchen. Sie begann, ihn zu streicheln, dort unten in dem Kartoffelgrab, während Kaminski oben weiter in der Datsche herumstapfte und triumphierende Halbsätze von sich gab.
    Siri streichelte Lenz’ Wangen, fuhr durch sein Haar, ertastete ihn wie eine Blinde. Er wich nicht zurück, jetzt nicht mehr, als wäre es ohnehin egal, nun, da sie wusste, dass er weinte, er ließ sich streicheln. Sie war sich nicht sicher, wie alt er in diesem Moment war, acht oder Anfang vierzig, ein Kind oder ein Mann. In der Dunkelheit war alles eins, alles unsichtbar, alles Äußere gleichgültig. Vielleicht war sie selbst ein Kind, denn alles war ein Spiel – ein Kind in einem Grab. Iris.
    Ihre Lippen waren die eines kleinen Mädchens, und sie spielten ein neues, waghalsiges Spiel, das hieß Küssen im Dunkeln. Sie legte ihre Hände über Lenz’ Ohren, um die dumpfen Schritte des Erwachsenen über ihnen auszuschließen, doch ihre Hände weigerten sich, dort liegen zu bleiben, sie glitten weiter, an einem Hals hinab, wo ein altes Halstuch im Weg war – und dann war alles

Weitere Kostenlose Bücher