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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ewige Kaffeetafel der Frau Hennings und Herrn Umbrichs und der Kaminskis und sonst nichts.
    Sie sah eine kleine Gestalt vor der Kulisse des Häuserklumpens, eine zerbrechliche Gestalt mit einem wehenden sonnenfarbenen Schal und weißem Haar. Sie ging langsam, ein wenig mühsam. Auch Frau Ammerland, dachte Siri, hielt es nicht immer aus in ihrem blauen Haus auf dem Hügel. Auch sie befand sich auf einem Spaziergang durch die Felder, der eigentlich eine Flucht war. Ein ewig missglückter Flucht versuch .
    Das eiserne Gittertor der leer stehenden Datsche war ins Schloss gefallen; Siri kletterte hinüber. Die Tür war nicht verschlossen, die Räume leer wie am Morgen. Sie trat beinahe auf ein Kaninchen. Nein, dachte sie mit einem Lächeln und bückte sich, um es zu streicheln. Nein, die Datsche war nicht so leer wie am Morgen. Die Kaninchen waren zurückgekehrt. Sie hockten in ihren Ecken und musterten Siri ängstlich.
    »Er ist hier«, flüsterte sie. »Er ist doch hier. Sagt mir, wo er ist.«
    Die Kaninchen antworteten nicht, was sie wenig verwunderte. Kaninchen sind trotz ihrer Flauschigkeit dickköpfige Tiere. Die Kaninchen dachten vermutlich, sie käme, um Lenz etwas zu tun. So wie die meisten anderen Menschen, die nach ihm suchten. Siri stand einen Moment lang in der Küche, starrte die leeren Regale, den Topf, das verblasste Linoleum auf dem Fußboden an. Auf dem Regal lag ein altes, stumpfes Küchenmesser.
    »Ich weiß, dass du hier bist.«
    Nichts geschah.
    »Ich weiß«, fuhr Siri fort, »dass du mich hörst.«
    Nichts.
    Sie sah aus dem winzigen Fenster. Frau Ammerland war nirgends mehr zu sehen. Dafür kam in der Ferne ein bekanntes Auto näher.
    »Shit« , sagte Siri, laut und zu sich selbst. »Kaminski.« Sie hatte keine Lust, Kaminski zu begegnen, vor allem nicht hier. Sie kniete sich hin, um vom Küchenfenster aus nicht gesehen zu werden; sie konnte hier nicht so hocken bleiben, sie wusste es, es war lächerlich, aber sie fühlte sich einen Augenblick selbst wie ein Kind, das sich versteckt. Der Küchenfußboden bestand aus altem, sich wellendem Linoleum; an einer Stelle hatte das Linoleum nicht gereicht, ein zweites Stück war angeflickt worden, am Boden festgenagelt; um die Nägel herum schwarz verfärbt vom Dreck, der sich mit den Jahren angesammelt hatte. Sie fuhr mit dem Fingernagel die Spalte zwischen den Linoleumstücken entlang. Draußen verstummte das Motorengeräusch.
    Die Spalte lief um die Ecke … um noch eine Ecke, kaum sichtbar im braungrau verwischten Muster des brüchigen Kunststoffs. Und auf einmal verstand sie etwas. Die Spalten kamen nicht daher, dass das Linoleum nicht ausgereicht hatte und angeflickt worden war. Sie sah auf, und ihr Blick fiel auf den Löffel. Sein flacher Metallstiel ließ sich in die Spalte schieben, der Löffel funktionierte als Hebel. Und dann sprang die Luke im Boden auf, und Siri blickte in tiefe, schwarze Schatten.
    Der Raum unter dem Boden der Küche war winzig. Sie dachte an das Haus ihrer Großeltern, die einen solchen Raum gehabt hatten, um dort, in Dunkelheit und kühlfeuchter Erde, ihre Kartoffeln zu lagern. Vielleicht war es das: die Miniaturausgabe eines Kartoffelkellers. Aber sosehr sie auch versuchte, das Wort Kartoffel zu denken, sie dachte das Wort Grab .
    Lenz sah sie an, ohne zu blinzeln. Das Grau seiner Augen war nur Teil von dem Grau unter dem Küchenboden, wo kein Licht hinfiel, um im Auge Farben wachzurufen.
    »Fuhrmann?«, rief Kaminski draußen, auf dem Weg über die Wiese. Er musste über das Tor geklettert sein wie zuvor Siri. Ohne nachzudenken, nahm sie den Löffel, stieg in das schwarz klaffende Loch hinunter und zog die Luke über sich zu. Die Dunkelheit war eine alles umfassende, absolute, eine Dunkelheit jenseits von Nacht. Der Geruch nach Erde und Schimmel hüllte sie ein. Sie fand eine Hand in der Dunkelheit, und diese Hand drückte ihre. Aber da war nicht nur die Hand. Es war eng in dem Grab, dem Verlies, dem Kartoffelkeller, zu eng für zwei Personen. So saßen sie dicht beieinander und teilten die schimmelige Luft.
    Irgendwo über ihnen klappte die Haustür.
    »Warum versteckst du dich?«, flüsterte Siri. »Werter hat gesagt, dir wird nichts passieren …«
    Lenz legte ihr einen Finger auf die Lippen. Oben gingen Kaminskis Schritte in der leeren Datsche auf und ab.
    »Es ist ein Spiel«, wisperte er, kaum hörbar, seine Lippen ganz nahe an ihrem Ohr. Er roch nach der Lebendigkeit der Blumenknollen auf Frau Hennings Grab. »Es

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