Friedhofskind (German Edition)
dachte Siri, wie in einer Falle. Und je mehr man strampelte, desto mehr verhedderte man sich. Man konnte nicht einfach gehen.
Aber es war nicht Frau Henning, die die Leute anstarrten. Es war die Grube.
Eine perfekte rechteckige, glattwandige Grube, exakt ausgehoben mit sicheren Spatenstichen. Am Rand, neben der Grube, stand ein Eimer voll frischer Blumenknollen bereit.
»Wer hat das Grab … gegraben?«, wisperte Siri, während der jungmotivierte Pfarrer die ausgebreiteten Hände erhob und Worte sprach, denen niemand lauschte.
»Das wissen wir auch nicht«, wisperte der Umbrich. »Es war heute Morgen einfach da. Der junge Kaminski hat gesagt, wenn keiner gräbt, gräbt er. Aber dann war das Grab da. Und der alte Fuhrmann, gucken Sie, dahinten sitzt er auf der Bank beim Tor … da saß er schon heute Morgen. Irgendwer wird ihn wohl zurück in sein Haus schleppen müssen. Hat keinem gesagt, wie er hergekommen ist.« Er nickte bedeutungsschwer. »Aber jemand muss ihn zum Friedhof gebracht haben, was?«
Siri sah sich um. Bis auf das Grüppchen am Grab und den alten Fuhrmann auf der Bank war der Friedhof leer.
Sie wandte sich wieder dem Sarg zu, der jetzt verschlossen wurde, sie setzten den Deckel auf Frau Hennings Leben und ihre Hoffnungen … und ihre Kuchen. Dann nahmen vier Männer die Enden der Seile und ließen den hölzernen Seelenkäfig in die Erde hinab. Siri reihte sich in die Schlange der Menschen ein, die am Grab standen, um Hände voll Erde hineinzuwerfen. Schließlich folgte sie Frau Hartwig zu der Kuchentafel, die unter den Bäumen aufgebaut war. Die beiden Kinder der hysterischen Mutter rannten um die Tische; Kuchen wurden verglichen, die weißen Tauben zogen Kreise am Himmel. Frau Ammerland war da und nickte Siri zu, ging aber früher als die anderen. Die Schnapsflasche wurde herumgereicht. Die Servietten flogen weg. Alles war wie bei Aljoschas Beerdigung.
Siri fühlte sich leicht schwindelig – würde dies immer wieder und wieder passieren? Das gleiche Ritual, die gleichen Tischdecken, die gleichen Thermoskannen, die gleichen Kaffeetassen, die gleichen Gespräche? Würde sie im Dorf bleiben und Beerdigung für Beerdigung erleben, Schnapsglas um Schnapsglas leeren, Kuchenstück um Kuchenstück essen, ohne jemals die Fenster fertigzustellen, jemals die Außenwelt wieder zu erreichen? Sie sah von ihrer Kuchengabel auf und merkte, dass der Umbrich jetzt starr über ihre Schulter blickte. Da drehte sie sich um.
Hinter ihr, abseits von der Kaffeetafel, schaufelte jemand das Grab zu.
Sie krallte die Finger um die Gabel.
Lenz.
Er trug seine graue Jacke wie stets, das verblichene Halstuch, die klobigen Schuhe. Er arbeitete gewissenhaft und ohne Eile, und am Ende kniete er sich hin, um die Blumen aus dem Eimer auf das Grab zu pflanzen. Er sah kein einziges Mal auf, sah nicht zu ihr oder überhaupt zu den Leuten an der Tafel hinüber. Nichts an ihm gab ihr einen Hinweis darauf, dass er wirklich in der Nacht zuvor mit ihr unter einer Wolldecke gelegen hatte, in einer Welt, die ausschließlich aus Kaninchen bestand. Nichts an ihm ließ vermuten, dass er jemals in einem leeren Raum eine durchnässte Frau geküsst hatte. Aber ihr wurde unnatürlich warm, als sie ihn ansah. Sie sah auf ihren Kuchenteller.
Und dann merkte sie, wie die Leute begannen, den Pfarrer hinauszukomplimentieren.
Er müsse sicher gehen, sagte der Tapirhundemann, er hätte ja so viele Verpflichtungen, sagte die Tapirhundefrau. All diese kleinen, winzigen, kaum erwähnenswerten Gemeinden, sagte Frau Hartwig. Eine Schande, so viel Arbeit für einen einzigen Pfarrer, sagte die hysterische Kindermutter. Er könne noch Kuchen mitnehmen, sagte Kaminski. Natürlich, von jeder Sorte ein Stück, sagte irgendeine andere Frau der Kuchenfraktion, er könne zu Hause entscheiden, welcher Kuchen der beste sei, die Erdbeerzeit sei nun ja leider vorbei, aber es gebe Kirsch- und Schokoladenkuchen, Torte mit eingelegten Pfirsichen und Vanilleschnitten …
Der Pfarrer ging, die Taschen voller Kuchen.
Kaminski und der Tapirhundemann begleiteten ihn bis zum Auto. Als das Motorengeräusch sich entfernte, kamen sie zurück.
Alle Kaffeetrinker hatten sich zur Kirche umgedreht.
Dort, vor der Kirchentür, stand Lenz, groß, breitbeinig und doch, dachte Siri, acht Jahre alt. Mit dem Rücken gegen das Holz der Türflügel gepresst. Die Kirche war wieder verschlossen, der Umbrich hatte den Schlüssel, sie alle wussten es. Aber es änderte nichts, ob die
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