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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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im Nebel spazieren gegangen ist. Eine Menge Leute jedenfalls denken das. Eine Menge Leute denken, sie wollte mit Frau Pechton reden. Sie waren doch auch da, oder? An dem Morgen?«
    »Ich …«, begann Siri.
    Werter winkte ab. »Das wäre also ein Grund«, fuhr er fort, »dafür, dass sie sterben musste. Frau Henning wollte Frau Pechten etwas sagen, was sie nicht sagen sollte. Es gäbe noch einen anderen Grund: Es war eine Verwechslung. Herr … Fuhrmann, jemand hat Sie wegrennen sehen. Sind Sie gerannt?«
    Lenz nickte. »Ich habe sie unten liegen sehen. Die Henning. Das war alles. Danach bin ich gerannt.«
    Wieder erhob sich ein Murren an der Kaffeetafel, und ein zweites Mal hob Werter die Hand.
    »Ist jemand schuldig«, fragte er, »weil er wegrennt?«
    »Die Frage ist«, rief Kaminski, »rennt jemand weg, der unschuldig ist?«
    Er löste eine Lawine aus Beifall und Lachern am Tisch aus, aber Werter schüttelte den Kopf.
    »Es ist nichts klar«, sagte er. »Nichts bewiesen und nichts nicht bewiesen. Solange das so ist, haltet eure Fäuste still. Ich seh euch, Jungs. Ich seh euch.«
    Dann trat auch er zurück, und Lenz blieb ganz alleine vor der Kirchentür stehen.
    Er sah sich um, unsicher, ob er gehen konnte oder ob jemand ihn aufhalten würde.
    »Es … es gibt keinen Grund, und es ist keine Verwechslung!«, rief jemand, und Siri war erstaunt, als alle sie ansahen. Sie war es, die gerufen hatte. »Ich meine … warum sollte er mich denn die Klippen runterstoßen wollen?«, fragte sie laut. »Wozu denn?«
    Und dann ging sie quer über das Stück Wiese zwischen Kaffeetafel und Kirchentür und streckte eine Hand aus. Sie fühlte sich schrecklich, als sie die paar Schritte über die leere Fläche machte, alles in ihr kribbelte, so unangenehm war es ihr, die Person zu sein, der nun alle Blicke folgten. Sie fühlte sich ausgeliefert, wehrlos, nackt – viel ausgelieferter, als sie es im Wasser gewesen war mit der klaffenden Wunde an ihrem Bein. Und der Weg war weit. Unendlich weit.
    Als sie am anderen Ende der Unendlichkeit ankam, nahm Lenz ihre Hand.
    Sie zog ihn zu sich, weg von der Kirche, die ihn doch nicht eingelassen hatte. Sie hielt seine Hand ganz fest. »Komm«, sagte sie. Und er folgte ihr.
    Hinter ihrem Rücken hörte sie die Leute flüstern.
    Sie muss ja wissen, was – man kann ihr nicht helfen, wenn sie – aber sie versteht einfach nicht – wie lange wird das – armes Mädchen.
    Sie hatte keine Hand und keinen Gedanken für Winfried frei, nickte nur kurz, als sie an ihm vorbeigingen. Aber natürlich sah er das Nicken nicht.
    Sie führte Lenz durch das Tor auf die sandige Straße, und dort blieben sie stehen. Er sah sie einen Moment an, prüfend. Dann sah er etwas hinter ihr, in der Ferne, sie konnte beobachten, wie seine Augen einen Punkt dort fokussierten. Und dann zog er seine Hand weg und rannte. Er rannte wie ein befreites Tier, wie ein losgelassenes Kind, rannte den Weg entlang in Richtung Wasser.
    Siri ballte die Fäuste und blieb einen Moment ganz still stehen. In ihren Augen hatte sich Ostseewasser gesammelt. Sie blinzelte es wütend weg. Es war wie ein Rückfall, die Art Rückfall, die einen tiefer fallen lässt als zuvor. Er hatte sich immer wie ein Kind benommen, aber dieses Losreißen und Fortrennen war kindlicher als alles, was er zuvor getan hatte. Er hatte angefangen, erwachsen zu werden, dachte sie, und jetzt hatte er beschlossen, es doch nicht zu werden.
    »Vor was rennst du denn weg?«, flüsterte sie. »Vor mir?«
    Sie stapfte zwei Schritte auf die Kellerwohnung zu, auf ihr Auto zu, in dem keine Schokoladentafeln mehr lagen, weil alle aufgebraucht waren. Auf den Werkstattraum mit den zerbrochenen blauen Glasplatten zu und das rote Telefon, dessen altmodische Wählscheibe auf die Berührung ihrer Finger wartete.
    »Nein«, sagte sie dann, drehte um und stapfte in die andere Richtung, die Hände in den Taschen des geblümten Mantels. »Nein, vergiss es. Ich lasse dich nicht. Ich lasse dich nicht zurückfallen in das, was vorher war. Du bist mit Iris gerannt, du hast sie gesehen, natürlich. Aber ich überlasse dich Iris nicht mehr.«
    Als das Dorf hinter ihr lag, drehte sie sich einmal um, nur kurz. Wie geduckt es dalag, gleich einem schwarzen Klumpen am Fuß der Kirche! Aber es gab keinen Gott in dieser Kirche, und der Klumpen der Häuser suchte kein höheres Prinzip, keine Gerechtigkeit, sondern lediglich Windschutz. Und der Friedhof, dachte Siri, war kein Garten. Er war die

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