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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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jetzt gerade dort …«
    »Du hast nie etwas verstanden«, sagte sie leise, aber nicht vorwurfsvoll. Es war nur eine Feststellung. »Denk mal über den Unterschied zwischen Singschwänen und Schneehühnern nach.«
    Er musterte sie, fragend, verwirrt. Doch sie wich seinem Blick nicht aus, und es war, als sähe er etwas Neues in ihr. Er musterte sie, prüfend.
    »Du warst nie jemand, der darauf bestand, sich nicht zu melden«, sagte er. »Nicht mal mit achtzehn. Sonst hätte ich mich nicht gesorgt. Es passt nur nicht zu dir. Es muss einen Grund geben dafür. Unser letztes Treffen … im März … es lief vielleicht nicht so, wie es hätte laufen sollen. Ich weiß noch, ich war furchtbar aufgewühlt von meinem Besuch in diesem Dorf auf der Insel. Ja, aufgewühlt ist das richtige Wort. Ich glaube, das war ein oder zwei Tage, nachdem ich dort gewesen war. Auf dem Friedhof. Nach so vielen Jahren, in denen ich es irgendwie nie gewagt hatte. Ich weiß noch, dass ich mich dafür schämte, als ich da stand, an dem Grab mit dem Schneehuhn. Ich hätte früher wiederkommen sollen. Plötzlich, weißt du, habe ich alles wieder vor mir gesehen; ich sah den Morgen wieder vor mir, an dem wir merkten, dass das Kinderbett im Hotelzimmer leer war, wir haben es erst morgens gemerkt … ich sah wieder vor mir, wie sie den kleinen Körper brachten. Es war einer der Fischer, der sie trug … ich sah auch das alte Hemd, das zerschlissene Jungenhemd, gegen das jemand ihr Kleid ausgetauscht hatte … und dann stand da dieser Mann auf dem Friedhof und fing an zu reden. Aber warum erzähle ich dir das noch mal? Ich habe es dir erzählt, im März, und das war vielleicht nicht gut. In mir ist damals alles wieder aufgebrochen, und dann hatte ich nichts Besseres zu tun, als hierherzukommen und es dir zu erzählen. Als du dich nicht gemeldet hast, dachte ich … vielleicht ist irgendetwas passiert. Weil wir über damals gesprochen haben.«
    Siri lächelte.
    »Dieser Mann, der angefangen hat, zu reden … der Mann auf dem Friedhof … weißt du seinen Namen noch?«
    »Ich …« Er überlegte. »Nein. Er hat sich vorgestellt, aber ich erinnere mich nicht. Nur was er gesagt hat, das höre ich immer wieder. Auch jetzt noch. Ich habe all diese Monate darüber nachgedacht; die Worte waren immer da, im Hintergrund … Ihnen ist klar, dass er noch hier herumläuft, ja?, hat er gefragt. Der Mörder Ihrer Tochter? Es war ein Unfall, habe ich gesagt, ein Unfall, und er schüttelte den Kopf. Wir hier im Dorf wissen, dass es kein Unfall war, sagte er. Sie war nicht die Einzige. Da war noch eine. Und es passieren Unfälle. Er ist verrückt. Irgendwann wird er wieder jemanden um die Ecke bringen.
    Unsinn, habe ich gesagt, das ist doch Unsinn, wenn es Beweise für so etwas gäbe, hätte die Polizei ihn längst … aber der Mann ließ mich nicht ausreden. Die Polizei, sagte er, hat keine Ahnung. Beweise gibt es eine Menge. Aber niemand traut sich, damit zu den Bullen zu gehen. Sie haben alle Angst vor dem Mörder. Er ist nicht wie andere Menschen. Wenn Sie verstehen.
    Ich sagte ihm, ja, ich erinnere mich, dass er ein wenig seltsam war, der Junge. Und er sagte, seltsam sei ein schwacher Ausdruck. Er spreche, sagte er, mehr mit den Toten auf dem Friedhof als mit den Lebendigen.
    Und über diesen Satz hätte ich gelacht, wenn sich nicht so viele andere Dinge in meinem Kopf überschlagen hätten. Ich meine, wir hatten immer gesagt, es war ein Unfall, vermutlich war es ein Unfall, wahrscheinlich war es ein Unfall … aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie daran geglaubt hatte. Dass ich immer gewusst hatte, dass dieser Junge schuld an allem war. Und mir wurde noch etwas klar. Mit wurde klar, dass die Sache nicht zu Ende war. Der Junge ist ein Teil meiner Vergangenheit, aber er existiert noch immer, er ist inzwischen ein Mann, und er ist noch immer ein Mörder. Man kann doch einen Mörder nicht einfach frei herumlaufen lassen …«
    »Das hast du mir alles schon erzählt«, sagte Siri sanft. »Im März.«
    »Ja. Und dass ich an die alte Pistole in meinem Schreibtisch dachte, die ich seit Jahrzehnten nicht angefasst habe.«
    Sie nickte.
    »Ich denke noch an sie. Manchmal, weißt du, Ir… Siri …« Er schüttelte den Kopf und sah hinab auf seine Finger, die auf der Tischplatte lagen. »Manchmal setze ich mich hin und nehme diese Pistole in die Hand und sehe sie mir an, einfach so. Ich habe nie damit geschossen; es ist ein Erbstück, ich weiß nicht

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