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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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gedacht hatte. Es war Teil des Plans gewesen, Lenz Fuhrmann nahezukommen, so nahe wie möglich, um die Wahrheit herauszufinden. Aber sie kannte die Wahrheit noch immer nicht. Sie wusste noch immer nicht, ob er ein Mörder war.
    Und an einer entscheidenden Stelle war der Plan schiefgelaufen.
    Sie hatte niemals geplant, zu lieben.
    Die blauen Gläser waren kein Problem.
    Man kannte Siri Pechton in der Fabrik, sie ging mit dem Verantwortlichen die Möglichkeiten durch, suchte aus, bekam einen Hänger geliehen, sah beim Verladen der Platten zu.
    »Fahren Sie langsam«, sagte der Mann, der im Büro die Rechnung ausstellte.
    »Sie haben mein Auto nicht gesehen«, sagte Siri. »Es ist das da vorne. Es kann nur langsam fahren.«
    Der Mann nickte und lachte, er hatte grau gewelltes Haar, und für Sekunden erinnerte er Siri an Werter.
    »Dann frohes Arbeiten«, sagte er. »Was sollte das noch mal gleich geben? Wo das Glas reinkommt?«
    »Die Flucht nach Ägypten bei Schnee, die Vertreibung der Pharisäer vom Friedhof und Maria Magdalenas Kindheit«, antwortete Siri. »Die stürmische Ostsee zu Genezareth, die Auferweckung von Lazarus’ Tochter Aschenputtel und die Kreuzigung.«
    Der Mann sah sie an und schüttelte den Kopf. »Das Letzte ist klar, die Kreuzigung«, sagte er. »Aber der Rest …«
    Er zuckte die Schultern, und Siri zuckte auch die Schultern.
    »Mir geht es umgekehrt«, sagte sie. »Ich habe eigentlich alles verstanden bis auf das letzte Bild.«
    Dann stieg sie in den alten Golf, tätschelte beruhigend sein Armaturenbrett und zog einen Anhänger voll Glasplatten vom Hof, Himmelsplatten mit scharfen Kanten.
    Sie traf ihren Vater im selben Hotel, in das er sie ausgeführt hatte, als sie fünfzehn gewesen war, Internatsschülerin, und er noch in anderen Breitengeraden. Zweimal im Jahr war er hergeflogen, um seine stille Tochter aus dem Internat zu entführen und in die große Stadt mitzunehmen, die Stadt seiner Vergangenheit, und er hatte ihr Dinge gezeigt, ihr erzählt, welche Gebäude hier und welche dort gestanden hätten und eigentlich dorthin gehörten, nun aber nicht mehr da waren. Und wo eigentlich nichts hingehörte, nun aber etwas war. Nach ’89 waren überall Bauwerke gewachsen, die seiner Meinung nach nichts in der Stadt zu suchen hatten, und er war nicht politisch, nie gewesen, nur sentimental.
    Das Hotel sah auf eine lange Tradition zurück; die einzige Veränderung, die man dort zuließ, war eine rückwärtsgewandte: Die Räume hatten ihre an der Vernunft – oder einfach am Mangel – orientierte Kahlheit abgeworfen, um zu jenem üppigen Zustand zurückzukehren, in dem sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts befunden hatten: dunkles Holz, Stuck an überraschenden Stellen wie der Decke der Damentoilette, bodenlange cremefarbene Vorhänge, die Siri stets an Ballkleider erinnerten. Neben der Tür zum Restaurant stand ein beinahe kalbsgroßer Elefant aus schwarz glänzendem Holz mit perlmutternen Intarsien, ein Ding, das die Familie des Hoteliers während eines halben Jahrhunderts elefantenlosem Sozialismus im Verborgenen gehütet und dann wieder an seinen alten Platz gestellt hatte. An den Wänden hingen Tuschezeichnungen von Kaffeepflanzen, denn die Vorfahren besagten Hoteliers hatten (kurzzeitig) zu den wenigen deutschen Kolonialherren Afrikas gehört, bis die Hitze, die Malaria und die afrikanische Küche sie zurück in den Schoß deutschen Sauerkrauts getrieben hatten. Damals, so konnte man auf der Speisekarte lesen, hatte der jüngste Sohn der Familie beschlossen, in Deutschland ein Hotel zu eröffnen, was all das bot, was er unter der anderen Sonne vermisst hatte, aber, wie seltsam, es knisterte dennoch ein gewisses Heimweh nach der anderen Sonne in den Wänden, wenn Siri angestrengt lauschte. Das elefantöse Interieur jedenfalls kam dem alten Herrn entgegen; er wärmte sich noch immer gerne an einer gewissen kolonialen Noblesse.
    Seine eigene Kolonialzeit war vorüber. Er war seit zehn Jahren wieder im Land, und er erklärte Siri gerne, dass das Wetter täglich schlechter wurde. Er spürte die Kälte und den ständigen Regen in jedem Knochen, und manchmal wünschte er sich zurück.
    Er saß schon an seinem Tisch – es war immer derselbe Tisch, ganz hinten an der Fensterfront des Restaurants –, als sie eintrat. Sie begann, darüber nachzudenken, ob er älter oder jünger aussah, als er war, aber dann drehte er sich um und lächelte ihr entgegen.
    Sie ging quer durch den Raum auf ihn zu,

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