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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zwischen den Tischen anderer Gäste hindurch, und erinnerte sich daran, wie sie in anderen Jahren zwischen ebendiesen (oder ähnlichen) Tischen hindurchgegangen war und wie beobachtet sie sich stets gefühlt hatte, wie unsicher, wie ausgeliefert. Sie hatte jedes Mal dem Wunsch widerstehen müssen, sich am Rand des Raumes entlangzudrücken, statt mitten hindurch, und sie hatte sich wiederholt gefragt, ob ihr Vater den Tisch hinten am Fenster wählte, damit sie genau das tun musste. Damit sie lernte, mit ihrer Angst umzugehen.
    Er war stets vor ihr hier gewesen, sodass er den Tisch wählen konnte.
    Dreißig Jahre lang hatte er versucht, sie zu etwas zu machen, auf das er stolz sein konnte, zu einer furchtlosen Raumdurchquererin, einer Balletttänzerin, einer Pianistin, einer Schönheit oder, wenigstens, einer Hübschheit.
    Es war ihm nicht geglückt.
    Siri hasste die milde Enttäuschung in seinen Augen.
    Erst in der Mitte des Raumes fiel ihr auf, dass sie keine Angst mehr hatte. Sie kam sich auch nicht mehr beobachtet vor. Die Leute an den anderen Tischen hatten ganz klar eigene und andere Interessen, als einer unauffälligen und nicht umwerfend hübschen jungen Frau nachzustarren, die durch ein Hotelrestaurant ging.
    Und sie selbst hatte andere Dinge zu bedenken als die Frage, ob jemand sie anstarrte. Vielleicht war es das, dachte sie: Sie hatte nie sehr viele andere Dinge gehabt; all ihr Fühlen und Denken hatten sich darauf fokussiert, wie andere Menschen sie sahen und wie ihr Vater sie sah.
    Für einen Wimpernschlag glaubte sie, noch jemanden neben ihrem Vater am Tisch sitzen zu sehen – eine hagere ältere Dame, die ihr Gesicht hinter den großen dunklen Gläsern einer Sonnenbrille verbarg, obwohl die Sonne nicht in den Raum schien. Siri schüttelte den Kopf. Die drei leeren Stühle am Tisch ihres Vaters waren nur das: leer.
    Jeder sieht nur seine eigenen Geister …
    Das fehlt auch noch, dachte Siri in plötzlichem kindlichen Aufbegehren, dass sich meine Mutter hier einschleicht, in einer gealterten Version ihrer selbst, einer Art Konjunktiv à la was-wäre-wenn-ich-heute-noch-leben-würde. Nein. Wenn sie hätte Teil irgendeiner Geschichte sein wollen, hätte sie sich das früher überlegen müssen.
    Der alte Herr stand auf, als sie bei ihm ankam, deutete eine Verbeugung an und streckte den Arm aus, um sie zu dem Stuhl ihm gegenüber zu dirigieren.
    »Siri. Schön, dich zu sehen.«
    Er wartete, bis sie sich gesetzt und einen Tee bestellt hatte, bis der Tee gekommen und der leise Ober verschwunden war. Sie hatten sich stets zum Tee hier getroffen, Tee und Kuchen, es war ein Ritual, auch das irgendwie kolonialistisch. Siri hatte ihm nie gesagt, dass sie Kuchen hasste.
    Der alte Herr beugte sich jetzt ein wenig über den Tisch, und sein Haar leuchtete im schräg einfallenden Nachmittagslicht genauso weiß wie das von Frau Ammerland. Er war noch immer ein gut aussehender Mann, jedenfalls, soweit Siri es beurteilen konnte, womöglich gerade wegen seines weißen Haars. Er war immer fotogener gewesen als seine Tochter.
    »Wo warst du?«, fragte er jetzt, nach vorn zu ihr gelehnt, als wäre die Frage dringend und geheim.
    »Wie – wo war ich? Ich habe gearbeitet. Wie immer. An einer kleinen Kirche …«
    »Siri. Erzähl mir nichts. Du hast dich noch nie so lange nicht gemeldet. Ich meine, ja, dieses eine Mal, aber da hat das, was du gesagt hast, wenig Sinn gemacht … ich habe versucht, dich anzurufen, aber das Handy ist ausgeschaltet.«
    Sie nickte. »Ich habe es nicht mitgenommen. Dorthin, wo ich zurzeit arbeite. Es … es erschien mir besser so.«
    Er lehnte sich noch weiter vor und sah ihr in die Augen. Seine Augen waren vom gleichen durchdringenden Blau wie ihre eigenen. Glasfensterblau.
    Manche Farben brechen leicht, dachte Siri.
    »Ich habe mir Sorgen gemacht«, flüsterte er. »Du beantwortest auch keine Mails, nichts. Ich war drauf und dran, die Polizei einzuschalten.«
    Sie lachte auf, zu laut offenbar, denn er sah sich um; peinlich berührt. »Ich bin erwachsen!«, sagte sie, leiser: »Du trägst keinerlei Verantwortung für mich. Die hätten dich schön blöd angeguckt bei der Polizei, wenn du deine erwachsene Tochter vermisst gemeldet hättest, weil sie sich eine Weile nicht bei dir gemeldet hat.« Sie bereute ihren Ausbruch und legte eine Hand auf seine, die sie auf dem Tisch zwischen den Tassen fand. »Es ist alles in Ordnung, wirklich. Glaub mir.«
    »Aber … ich verstehe nicht, warum du gerade

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