Friedhofskind (German Edition)
»ist wir ?«
Die Verabredung, die Siri hatte, befand sich in ihrer Wohnung.
Sie klappte den Laptop auf, den sie seit Monaten nicht benutzt hatte, und sah sich ein letztes Mal ihre Internetseite an. Siri PechTon. Neu- und Umgestaltung von Glasfenstern. Preise, Termine, Referenzen … Dann löschte sie die Seite. Der Name war immer dumm gewesen, kindisch.
War denn auch ein Teil von ihr für immer Kind geblieben, wie Lenz, für immer acht Jahre alt?
Sie öffnete das Fenster und ließ die abgestandene Stadtluft in die Wohnung strömen. Sie sehnte sich nach dem Wellenland, das sich sanft zwischen tief einschneidenden Sandwegen dahinwand, sie sehnte sich nach dem Grau und dem Blau und dem Grün der See. Sie sehnte sich nach einzelnen Dingen: einem Ast der großen Eiche, auf dem man sitzen konnte, wenn man hinaufkletterte, direkt neben der Kirche. Dem Muster der alten Planken im Steg, am Hafen. Dem Regenwasser in den Schlaglöchern auf der Straße. Dem Pfad zwischen den Büschen, an dessen Ende das Haus voller Dunkelheit stand. Dem Gartentor einer verlassenen Datsche.
Als die Sonne über der Stadt unterging und anstelle von Nacht eine diffuse Lichtmasse hinterließ, wählte sie die Nummer, die sie vor langer Zeit von Frau Hartwig bekommen hatte. Sie ließ es lange klingeln. Sehr, sehr lange.
»…rmann?«, knurrte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ich bin es, Siri«, sagte Siri. »Ich wollte nur wissen … ist er wieder da?«
»Der Junge? Ja, sieht so aus. Scheint keine Lust mehr zu haben, was, zum Versteck spielen. Bin ja gespannt, ob sie ihn wirklich in Ruhe lassen, wie Werter sagt. Gut für mich, dass er da ist … ist doch einfacher mit ihm als allein …«
Siri atmete tief durch. Ihre Finger waren feucht vor Aufregung. Schulmädchen, Schulmädchen! »Kann ich ihn sprechen?«
»Was? Jetzt? Nein. Er ist noch mal weg. Irgendwas war, er war unruhig, ist hin und her gerannt wie ein Hund, ich hab ihn gehört, immer hin und her … dann ist er weg. Vielleicht war’s Iris, vielleicht hat sie ihn gerufen.«
»Winfried«, sagte Siri, »kann ich Sie etwas fragen?«
»Hm?«
»Wer ist Carla Berg?«
»Niemand mehr«, sagte Winfried. »Sie ist tot.«
Und dann war da nur noch ein Tuten im Telefon.
Siri legte sich flach aufs Bett, ballte die Fäuste und presste ihr Gesicht in die Matratze.
»Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen«, wiederholte sie, ihre Stimme gedämpft und kaum hörbar, »dass es irgendwo einen Mörder gibt, der an allem schuld ist. Aber du bist es nicht. Du darfst es nicht sein, hörst du, Lenz? Du. Darfst. Es. Nicht. Sein. Wenn ich herausfinde, warum jemand Frau Henning und Aljoscha umgebracht hat … und Carla Berg … dann weiß ich auch, wer es war. Die Lösung ist ganz nah, ich sehe sie nur nicht. Es ist alles eine Frage des Blickwinkels.«
† † †
Er erwachte allein und frierend.
Es war, als hätte ihn alle Wärme des Sommers zusammen mit ihr verlassen. Eine Weile lag er unter der Decke und spürte sein eigenes Zittern, dann setzte er sich auf und schlang die Arme um die Knie.
Und beinahe erwartete er, Iris sagen zu hören: Du solltest was anziehen. Aber Iris war nicht da. Nur die Kaninchen waren in ihren Ecken dabei, ebenfalls langsam wach zu werden und sich aus den Fellknäueln zu einzelnen Individuen zu lösen. Einen Moment lang wünschte er sich, ein Kaninchen zu sein. Alles wäre einfach und warm, und irgendwann bekommst du das Genick gebrochen und die Sache ist vorbei, ohne größere Überlegungen.
Er zog sich an und trat hinaus auf die Wiese, die so lange schon ungemäht zwischen den Hecken lag, halb zur Steppe geworden, durchsetzt mit Holunderbüschen und hohen Disteln. Für Sekunden glaubte er, ein blaues Kleid zwischen den Disteln aufblitzen zu sehen, doch als er genauer hinsah, war niemand dort.
»Iris?«, rief er – leise, man wusste nicht, wer auf dem Weg vorbeiging. »Iris? Bist du hier?«
Er bekam keine Antwort. Das war ihm noch nie passiert. Noch nie. Iris war nie aufgetaucht und verschwunden. Er musste es sich eingebildet haben.
Aber es passierte wieder. Diesmal sah er das Blau vor dem Tor, und er rannte dorthin, quer durchs hohe Gras.
»Warte!«, rief er, »warte doch!« Er fand den Schlüssel zum Tor nicht so schnell, er machte einen Klimmzug und kletterte darüber, doch als seine Füße drüben den Weg erreichten, war da abermals niemand. Er atmete tief durch, schloss die Augen und öffnete sie wieder.
Da sah er einen Kinderarm aus dem
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