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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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mal, ob es rechtmäßig ist, sie zu besitzen, wenn sie nirgendwo registriert ist. Ich sitze da und halte sie und frage mich, wie es wäre, jemanden zu erschießen. Wenn derjenige ein Mörder wäre. Wenn derjenige der Mörder meiner Tochter wäre. Als ich dich zum letzten Mal getroffen habe, dachte ich, es geht vorbei – dieses Gefühl, etwas tun zu müssen. Dieser plötzliche Hass, der drei Jahrzehnte lang geschlafen hat. Ich dachte, es ebbt ab, es verschwindet. Es ist nicht verschwunden. Du bist verschwunden. Und da habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen.«
    »Was dachtest du denn? Was sollte mir passiert sein?«
    Er trank einen Schluck Tee, kalt geworden in der fleckenlos weißen Keramiktasse.
    »Ich habe geträumt. In meinem Traum bist du in einem grauen Meer geschwommen. Bei Sturm. Und du bist darin untergegangen. Ich war so weit entfernt, am Ufer – ich streckte die Hand aus, aber ich erreichte dich nicht. Und dann wollte ich ins Wasser waten, aber jemand kam mir zuvor. Ich habe es nicht nur einmal geträumt, sondern sicher zwanzig Mal, immer dasselbe: Es ist ein Mann, den ich noch nie gesehen habe, aber ich weiß, dass er es ist; Iris’ Mörder. Er klettert von der Orgelempore hinunter, auf der ich sie einmal fotografiert habe. In meinem Traum befindet sich die Orgelempore direkt am Ufer, ganz ohne Kirche … er klettert hinunter und springt ins Meer, ich sehe ihn hinaussschwimmen, und ich weiß, wenn er dich erreicht, passiert das Gleiche wie vor dreißig Jahren. Er wird dich unter Wasser halten, bis du dich nicht mehr wehrst, und ich werde dich verlieren.« Er schüttelte den Kopf. »Und dann endet der Traum.«
    »Träume sind Unsinn«, murmelte Siri.
    »Natürlich«, sagte der alte Herr. »Aber … das Schneehuhn … ich erinnere mich jetzt, dass du am Telefon etwas über ein Schneehuhn gesagt hast. Ich fürchte, ich habe nicht richtig zugehört …«
    »Nein«, sagte sie. »Ja. Es hätte ein Singschwan sein sollen. Du hast nicht zugehört. Der Siri von heute nicht und der Iris von damals nicht. Sie hat die Singschwäne geliebt. Schneehühner gibt es hier überhaupt nicht. Du hast dir nur gemerkt, dass es ein weißer Vogel war …«
    Er lachte. »Ist das so wichtig?«
    »Manchmal«, sagte Siri, »sind die kleinen und unwichtigen Dinge wichtig.«
    »Aber woher weißt du das? Das mit den Singschwänen?« Er sah sie seltsam an, er schien sich zu fragen, ob sie Erinnerungen besaß, die ihr nicht gehörten.
    »Weil es Leute gibt«, antwortete sie, »die besser zugehört haben und die sich erinnern. Ich war dort. Ich bin, eigentlich, immer noch dort. Dies ist nur eine Unterbrechung. Ich fahre morgen zurück.«
    Er machte eine ausfahrende Bewegung mit der rechten Hand und stieß die Teetasse um. Und als er fragte: »Wohin?«, da war die Frage überflüssig, denn er wusste es natürlich.
    »In das Dorf. Im März … alles, was du im März gesagt hast, war in Ordnung, du hättest dich nicht zu sorgen brauchen, weil du mir von deiner Begegnung auf dem Friedhof erzählt hast. Ich meine, ich dachte nie, dass das damals ein Unfall war. Wir haben so oft darüber gesprochen, schon, als ich ein Kind war … ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass es irgendwo einen Mörder gibt, der an allem schuld ist. Als kleines Kind habe ich ihm wirklich an allem die Schuld gegeben, nicht nur an der Sache mit Mama, sondern sogar daran, dass ich so war, wie ich war … so … du weißt … schüchtern, ungelenk … nein, es war völlig in Ordnung, dass du mir erzählt hast, was dieser Mann dir erzählt hat. Du hast nur einen einzigen Fehler gemacht. Du hast mir zum ersten Mal den Namen des Dorfes genannt.« Sie lachte. »Komisch, dabei ist gerade der Name so völlig unwichtig geworden, weil das Dorf jedes Dorf ist … aber das führt zu weit …«
    Der alte Herr wischte die Teepfütze mit der Serviette auf und sah sie an. »Ich verstehe nicht«, sagte er, unsicher. »Siri … du sagst komische Dinge. Ich habe dich immer verstanden, aber jetzt habe ich damit aufgehört.«
    »Du weißt, dass das nicht stimmt«, erwiderte sie leise. »In Wirklichkeit befürchtest du, dass du gerade damit angefangen hast, mich zu verstehen.«
    »Siri.« Sie sah, dass er sich Mühe geben musste, nicht aufzuspringen, er sprach angestrengt leise.
    »Was tust du in diesem Dorf?«
    »Ich finde die Wahrheit heraus.« Sie lauschte dem Satz nach. Er hörte sich gut an, wie aus einem Film, aber er stimmte gar nicht. Ich verwickle mich, wäre

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